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Die Germanistin Sina Meißgeier hat sich in ihrer Dissertation mit der Literatur von Überlebenden des KZ Ravensbrück auseinandergesetzt. Im Interview berichtet sie davon, was diese Texte von jenen anderer KZ-Überlebenden unterscheidet und welche Herausforderungen und Chancen ihr Projekt barg.

Wenn wir an Holocaustliteratur denken, fallen uns vor allem jene Zeitzeugnisse ein, welche die zutiefst erschreckenden Zustände in Konzentrationslagern sowie die unfassbare Brutalität der Kommandanten und Aufseherinnen vor allem dokumentarisch wiedergeben. Sina Meißgeier ist davon überzeugt, dass es in den letzten Jahrzehnten immer offensichtlicher wurde, wie wichtig es ist, sich auch das narrative Potenzial anzuschauen, das diesen Dokumenten innewohnt. In ihrer Dissertation Erzähltes Leben im geteilten Deutschland nach dem Holocaust: Frauenfiguren in der Erinnerungsliteratur zum KZ Ravensbrück zwischen 1945 und 1989 hat sie sich mit den Texten überlebender Frauen aus dem KZ Ravensbrück beschäftigt.

Aufgewachsen im Landkreis Leipzig, lag es für Meißgeier zunächst auch geografisch nah, sich für ein Germanistik-Studium an unserer Universität zu entscheiden. Dass es sie im Rahmen ihrer Promotion jedoch in die Ferne der Uni von Tucson (Arizona) verschlug, ergab sich aus zweierlei Gründen: ihrer Freude am Studieren im Ausland – nach einem Erasmus-Semester in Cambridge während des Bachelorstudiums und dem Masterstudium in Leipzig entschied sie sich, einen Teil ihrer Promotionszeit in den USA zu absolvieren – und damit verbunden für ein Angebot von Prof. Burdorf, der ihr vom „Arizona-Programm“ berichtete.

Seit mittlerweile über 20 Jahren besteht eine Kooperation mit der University of Arizona in Tucson, deren German Studies im US-weiten Vergleich einen guten Ruf genießen. „Der Doktorandenstudiengang nennt sich eigentlich Transcultural German Studies und umfasst sowohl Linguistik und Literatur- und Kulturwissenschaften als auch DaF/DaZ“, so Meißgeier. Mitten in ihr Promotionsstudium fiel der Ausbruch der Corona-Pandemie und damit die Frage nach dem Zurückkommen oder Bleiben. Im Oktober 2021 kehrte sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin zurück an die hiesige Germanistik. Zuletzt, in den Endzügen ihrer Dissertation, koordinierte sie auch ein internationales Projekt und absolvierte das Zertifikatsprogramm des Hochschuldidaktischen Zentrums Sachsen.

Die weibliche Perspektive des Erinnerns im Fokus

In ihrem Promotionsprojekt hat sich Meißgeier vor allem mit jenen deutschsprachigen Texten von überlebenden Frauen des KZ Ravensbrück beschäftigt, die in der DDR-Zeit veröffentlicht wurden. Da sie Teil eines ostdeutschen Erinnerungsdiskurses sind, interessierte die Forscherin auch die Frage, inwiefern diese KZ-Literatur den antifaschistischen Gründungsmythos der DDR widerspiegelt und wo sich auch Brüche feststellen lassen.

Bei den etwa 2000 Seiten Primärtexten, durch die sich Meißgeier arbeiten musste, handelt es sich vor allem um epische Texte, zumeist um Erinnerungsberichte, aber auch Theaterstücke und kürzere Prosa sind Teil ihres Korpus. Ein Projekt zur Buchenwald-Literatur, bei dem vor allem männliche politische Häftlinge den Schwerpunkt bildeten, sowie ein Schlüsseltext zur Genderdifferenz im KZ Auschwitz motivierten sie inhaltlich und methodisch dazu, sich mit dem von ihr als „weibliches Buchenwald“ bezeichneten Komplex Ravensbrück auseinanderzusetzen. „In der Literatur der Frauen aus Ravensbrück finden sich ähnliche Stränge wie bei den Männern aus Buchenwald“, so Meißgeier, „aber gerade die weibliche Perspektive mit Themen wie Mutterschaft, sexualisierter Gewalt und Kindern weist erhebliche Unterschiede auf.“ In ihrer Analyse zeigt sie u.a., wie sich die Aspekte Entweiblichung und Entsexualisierung als Strategien des Überlebens im Lager durch die Texte ziehen. „Das sind Dinge, die man nur mit literaturwissenschaftlichen Analysetools herausarbeiten kann“, stellt die Forscherin klar.

Meißgeier betrachtet ihre Dissertation als Hybrid einer typisch germanistischen und einer German Studies-Dissertation und meint: „in beiden Systemen gewesen zu sein, hat meine wissenschaftliche Arbeit extrem bereichert“. Sie hofft, mit ihrer Arbeit einen Beitrag dazu leisten zu können, dass vor allem das narrative Potenzial von Holocaust-Literatur näher betrachtet wird und sich der wissenschaftliche Fokus auch auf die ostdeutsche Erinnerungskultur richtet. „Da muss noch viel mehr getan werden“, findet die Germanistin.

Von Herausforderungen, die gleichzeitig auch Chancen sind

„Bei so viel Primärliteratur ist man fast zwei Jahre damit beschäftigt, die Texte zu lesen und wieder zu lesen, auszuarbeiten, dann noch das Drei- bis Vierfache an Sekundärliteratur…“, so Meißgeier. Doch nicht nur der Umfang, sondern auch das Thema selbst stellte sie vor enorme Herausforderungen in ihrem Promotionsvorhaben: „Schaffe ich überhaupt, über so ein Thema zu schreiben? Kriege ich auch die notwendige Distanz? Das ist halt nicht Reiseliteratur…“ So emotionalisiere ja der Themenkomplex Holocaust wie kaum ein anderer, insbesondere, wenn man deutsche Staatsbürgerin ist. Letztendlich hat Meißgeiers beständiges Interesse am Thema seit ihrem ersten Besuch in Buchenwald als Jugendliche und viel später am Ende ihres Masterstudiums in der Gedenkstätte Ravensbrück sie überzeugt, dabei zu bleiben.

Trotz aller Anstrengungen blickt sie vor allem dankbar zurück auf diese Zeit: dafür, dass sie mit dem Projekt die Chance hatte, in den USA zu leben und wissenschaftlich eingebunden sein zu dürfen, und nicht zuletzt auch dafür, dass sie sich dadurch selbst als Mensch und Wissenschaftlerin weiterentwickeln konnte: „Immerhin habe ich gelernt, wo meine Belastungsgrenzen sind und wie ich mich richtig organisiere.“

Aktuell arbeitet die frisch Promovierte hauptsächlich als freie Journalistin, sitzt aber gleichzeitig auch an der Überarbeitung ihres Manuskriptes, das im Frühsommer als Buch veröffentlicht werden soll. In einem ihrer weiteren Forschungsprojekte beschäftigt sie sich übrigens mit Exiltexten am Beispiel der Autorin Hedda Zinner und auch weiterhin mit queerer DDR-Literatur und didaktischen Konzepte zum Holocaust. Gern würde Meißgeier auch wieder eine Arbeit in der Wissenschaft antreten, lässt sich dabei von der bekanntermaßen schwierigen Stellensituation jedoch nicht unterkriegen. Sie möchte in Leipzig bleiben und hofft darauf, dass sich die Dinge weiterhin gut für sie fügen – mit einem Fuß in der wissenschaftlichen und einem in der journalistischen Tür.

 

Das aus der Dissertation hervorgehende Buch „Die deutschsprachige Literatur der Frauen aus dem KZ Ravensbrück. Erzähltes Leben nach dem Holocaust im geteilten Deutschland.“ erscheint im Sommer 2024 bei De Gruyter.