Die Slawistik in Leipzig blickt auf eine lange Tradition zurück. Entdecken Sie hier die Geschichte des Instituts für Slavistik.
Die Geschichte des Instituts
Slawistische Forschung und Lehre werden an unserer Universität bereits seit den 1840er Jahren betrieben, zuerst durch den sorbischen Lektor für slawische Sprachen und Literaturen Johann Peter Jordan sowie den Russisten Johann Adolf Erdmann Schmidt. Im Jahr 1870 wurde mit Johann Heinrich August Leskien der erste deutsche Ordinarius für slawische Sprachen, ab 1876 ordentlicher Professor für slawische Philologie, berufen. Die Einrichtung der Professur geht wesentlich auf das Wirken der 1769 in Leipzig gegründeten und noch heute bestehenden Societas Jablonoviana (Jablonowskische Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig) sowie auf einen Antrag des Wendischen Predigercollegiums – des ersten sorbischen Vereins – an das Sächsische Kultusministerium zurück. Leskiens vielfältige Studien und Lehrbücher zum Altbulgarischen wie auch seine Forschungen zum Serbischen, Kroatischen und Litauischen haben seitdem Generationen von Slawistinnen und Slawisten geprägt. Zusammen mit den Indogermanisten Karl Brugmann und Hermann Osthoff war Leskien einer der maßgeblichen Begründer der „Schule der Junggrammatiker“, die Leipzig zu einem wichtigen Standort der Sprachwissenschaft werden ließ, der Linguisten wie Baudouin de Courtenay und Ferdinand de Saussure anzog.
Auch nach Leskien haben in Leipzig eine Reihe bedeutender Slawisten gelehrt: Matija Murko (1917 – 1920), Max Vasmer (1921 – 1925), gefolgt von Reinhold Trautmann (1926 – 1948). Murko gelangen strukturelle Verbesserungen für die Slawistik, die nach wie vor als Teil der vergleichenden Sprachwissenschaften eine Abteilung der „Vereinigten Sprachwissenschaftlichen Institute“ war, indem er das Südosteuropa- und Islam-Institut mitbegründete, dem er als Direktor vorstand. Daneben bestand bereits seit 1906 das von Gustav Weigand gegründete Institut für bulgarische Sprache. Murko engagierte sich zudem für eine Aufwertung des Polnischen im universitären Curriculum. Vasmer setzte in Leipzig das Erbe von Murko fort und gründete im Jahre 1922 ein selbständiges Slawisches Institut im Rahmen der Philosophischen Fakultät. Die von Murko angestrebte Modernisierung des Gesamtkomplexes der Lehrveranstaltungsreihen im Bereich der Slawistik wurde unter Vasmers Leitung weitergeführt. Seine Vorlesungen, Seminare und Übungen erstreckten sich thematisch von Fragen des Altbulgarischen über die Geschichte der einzelnen Slawinen bis hin zur Darstellung literaturhistorischer Probleme der älteren und neueren Zeit. Daneben gründete Vasmer 1924 die älteste und heute noch bestehende deutschsprachige slawistische Zeitschrift „Zeitschrift für slavische Philologie“. Vasmers Interesse galt vor allem der Etymologie und der Erforschung von Lehnwörtern als Ausdruck der Beziehungen zwischen den slawischen Völkern und ihren nichtslawischen Nachbarn sowie der Untersuchung von Personen-, Völker-, Orts- und Gewässernamen. Trautmann befasste sich in stärkerem Maße als seine Vorgänger mit den westslawischen Sprachen. In Leipzig widmete er sich bald dem Sorbischen und der Erforschung der Ortsnamen slawischer Herkunft in verschiedenen Regionen Deutschlands. Er übertrug die altrussische Nestorchronik ins Deutsche, beschäftigte sich mit altrussischen Bylinen und mit dem Werk der russischen Autoren Turgenev und Čechov.
Trautmann blieb während der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs Direktor des Slawischen Instituts. Die Unterzeichnung des Gumbel-Aufrufs 1931 blieb für ihn – anders als für die jüdischstämmigen Mitunterzeichner – folgenlos. 1933 gehörte er zu den Unterzeichnern des „Bekenntnisses der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“; seit 1937 war er, wie seit 1943 auch sein Nachfolger Forssman, Mitglied der NSDAP. Dennoch versuchte er, den 1927 erhobenen Anspruch an den Slawisten als Forscher und Vermittler in seinen Lehrveranstaltungen aufrechtzuerhalten. Die Slawistik wurde nun jedoch zunehmend von Laien, etwa in der an alle Hörer der Philologischen Fakultät gerichteten Veranstaltungsreihe „Die slawische Welt", vertreten, in der z.B. Kulturleistungen der slawischen Welt vor allem auf die dort lebenden deutschen Minderheiten zurückgeführt wurden. Die „reguläre“ slawistische Lehre hingegen trat seit 1935 infolge ausbleibender Mittelzuweisungen des „Leipziger Universitätsbundes e. V.“ und anderer Förderer zunehmend in den Hintergrund. Während mit Kriegsbeginn insbesondere Lehre und Forschung zur Polonistik und Sorabistik fast vollständig zum Erliegen kamen, konzentrierte sich die Slawistik vor allem auf die vermeidlich politisch unverdächtige Linguistik. Die von Vasmer und Trautmann begründete Reihe „Grundriß der slavischen Philologie und Kulturgeschichte" wurde Ende der Dreißigerjahre eingestellt.
Mit Kriegsbeginn hatte insbesondere die Philologisch-Historische Abteilung der Philosophischen Fakultät, zu der das Slawische Institut gehörte, unter zahlreichen Einberufungen (über 40 Prozent) zu leiden.
Nach Kriegsende fanden bereits im Sommersemester 1945 wieder slawistische Lehrveranstaltungen statt. Da der Gebäudekomplex der Universität durch Bombenangriffe zerstört war, fanden Seminare und Vorlesungen in der Hohen Straße statt. Die Lehre wurde außer von Trautmann noch von zwei Lektoren für Bulgarisch und Serbokroatisch gesichert. Nachdem zunächst eine umfangreiche Russistik eingerichtet wurde, kamen mit Beginn der Fünfzigerjahre zunehmend polonistische Lehrveranstaltungen hinzu. Mit der Einführung des Russischunterrichts an allgemeinbildenden Schulen in der SBZ im Jahr 1946 kam dem im selben Jahr wiedergegründeten „Slawischen Institut“ vor allem eine große Bedeutung bei der Ausbildung von Russischlehrern zu. In geringerem Umfang wurden auch Diplomslawisten in den Fächern Russistik, Westslawistik und Südslawistik ausgebildet.
Trautmann konnte seine Tätigkeit nach dem Abschluss seines Entnazifizierungsverfahrens und der Versicherung seiner Ergebenheit gegenüber der SMAD fortsetzen. Nachdem er 1948 einen Ruf nach Jena erhalten hatte, folgte ihm Julius Forssman als Institutsdirektor nach. Zum ersten Lehrstuhlinhaber für Slawische Philologie nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Reinhold Olesch (1910 – 1990) im Wintersemester 1949/50, der sich vor allem den kleinen westslawischen Sprachen und Dialekten sowie den ausgestorbenen westslawischen Sprachen zuwandte. Nach Oleschs Weggang in die Bundesrepublik übernahm zum Wintersemester 1953/54 Rudolf Fischer den Lehrstuhl.
1959 verfügte das Slawische Institut neben dem Ordinarius über 13 Lektoren und ebenso viele Lehrbeauftragte, mehrere Angestellte und einen hauptamtlichen Bibliothekar. Mit mehr als 400 immatrikulierten Studierenden war es eines der größten philologischen Institute der Universität Leipzig (seit 1953: Karl-Marx-Universität). Allerdings war die Mitarbeitendenfluktuation hoch: Wegen der politischen Situation in der DDR entschieden sich viele Kolleginnen und Kollegen für eine Übersiedlung in die Bundesrepublik, so etwa die Sprachlehrer Hubert Rösel, Günter Schalich und Rolf Ulbrich. Jene, die blieben, gerieten nicht selten aufgrund abweichender politischer Meinungen mit der Obrigkeit in Konflikt und kamen teilweise auch ins Gefängnis. Dies betraf 1957 etwa die Dozenten Ronald Lötzsch und Ralf Schröder. Fischer selbst wurde 1968 aus politischen Gründen entpflichtet.
Die Slawistik profitierte hingegen von den ersten Kooperationsverträgen, die die Karl-Marx-Universität mit den Universitäten Sofia/Sofija (1960), Breslau/Wrocław (1962), Kiew/Kyjiw (1963) und Ljubljana (1964) abschloss, vor allem aber von der Möglichkeit von Aufenthalten in der UdSSR.
Die Auflösung des Slawischen Instituts erfolgte 1968 im Rahmen der III. Hochschulreform der DDR. Der literaturwissenschaftliche Bereich wurde als „Fachbereich Slawische Literaturen“ in die Sektion „Kulturwissenschaften und Germanistik“ (ab 1976 „Germanistik und Literaturwissenschaft)“, die Sprachwissenschaft in die Sektion „Theoretische und Angewandte Sprachwissenschaft“ (TAS) eingegliedert. Erhalten blieb nach 1968 lediglich die Sorabistik, die aufgrund der besonderen Stellung der sorbischen Sprache und Kultur im Osten Deutschlands in einem eigenständigen Institut betrieben wurde. Aufgrund der Integration des Russischen in die Ausbildung von Diplomlehrern anderer Fächer bestanden zudem russistische Professuren an anderen Fakultäten, etwa jene für Russische Literatur an der Sektion Rechtswissenschaft, die zwischen 1974 und 1979 durch Erhard Hexelschneider vertreten wurde.
Die Gründung der TAS markierte eine Zäsur in der Leipziger Linguistik und Fremdsprachenausbildung. Als erster Direktor der Sektion TAS wurde Albrecht Neubert eingesetzt. Die Sektion TAS wurde in folgende Bereiche gegliedert: Slawische Sprachwissenschaft, Allgemeine und westslawisch-deutsche Übersetzungswissenschaft, Russisch-deutsche Übersetzungswissenschaft, Englische Sprach- und Übersetzungswissenschaft, Romanische Sprach- und Übersetzungswissenschaft, Methodik des Fremdsprachenunterrichts, Sprechwissenschaft und Fachsprachen. Im Wintersemester 1970/71 kam es zu einer Verschmelzung der slawischen Sprachwissenschaft und Übersetzungswissenschaft. Es entstanden die Wissenschaftsbereiche „Slawische Sprachwissenschaft“ und „Westslawisch-deutsche Übersetzungswissenschaft“, die im Jahre 1972 den Namen "Wissenschaftsbereich West- und Südslawische Sprachen" bekamen. Leiter dieses Wissenschaftsbereichs war von 1972 bis 1993 Gert Jäger. Hier wurden Diplom-Sprachmittlerinnen und -mittler für Polnisch, Tschechisch, Bulgarisch, Serbokroatisch und seit Anfang der Siebzigerjahre auch für Slowakisch ausgebildet. Regelmäßig fanden internationale Konferenzen zum slawisch-deutschen Sprachvergleich und zu Grundfragen der Übersetzungswissenschaft statt.
Leiter der slawisch-deutschen Übersetzungswissenschaft der TAS war bis 1980 Otto Kade, neben Gert Jäger und Albrecht Neubert einer der Mitbegründer der Leipziger Schule der Sprach- und Übersetzungswissenschaft. Als Professor für Slavistik und Allgemeine Sprachwissenschaft lehrte dort von 1969 bis zu seiner Emeritierung 1986 auch der Linguist Rudolf Růžička. Seine Arbeiten zur generativen Grammatik prägen die Forschung des Instituts bis heute. Zum Professor für die Methodik des Russischunterrichts wurde 1969 Harald Hellmich berufen. Seit 1969 leitete Rudolf Fischer den Lehrstuhl für Bohemistik; 1975 wurde Ernst Eichler auf den Lehrstuhl für Tschechische Sprache berufen und entfaltete bis zu seiner Emeritierung 1995 und darüber hinaus eine breite Forschungstätigkeit, die sich in mehr als 1000 Veröffentlichungen hauptsächlich zur Namenkunde und Siedlungsgeschichte in Deutschland und dem westslawischen Raum niederschlug.
Die Wendezeit brachte für die Slawistik zahlreiche Umbrüche mit sich. Sämtliche Arbeits- und Dienstverhältnisse wurden aufgelöst und neu ausgeschrieben. Zudem wurde die Pädagogische Hochschule „Clara Zetkin“ (bis 1972: Pädagogisches Institut), die u. a. für die Ausbildung von Russischlehrerinnen und -lehrern zuständig war, 1990 aufgelöst. Im Ergebnis der Erneuerung der Universität in den Jahren nach 1989 wurde am 2. Dezember 1993 schließlich das heutige „Institut für Slavistik“ gegründet, das die lange Tradition von Forschung und Lehre in slawischen Sprachen, Literaturen und Kulturen auf den Gebieten der Ost-, West- und Südslawistik fortführte. Zum Oktober 1993 wurde Wolfgang F. Schwarz auf die Professur für Westslawische Literaturwissenschaft und Kulturgeschichte berufen. Er widmete sich vor allem der westslawischen komparatistischen Forschung und Lehre und verfasste Arbeiten zur Literaturästhetik, zur Avantgarde, zum Drama und zur literarischen Phantastik. 1994 nahm Uwe Hinrichs den Ruf auf die Professur für die Südslawische Sprach- und Übersetzungswissenschaft an. Er legte seine Schwerpunkte vor allem auf die Südslawistik, die Balkanlinguistik und die Eurolinguistik. Mit der Wahrnehmung der Professur für Slawische Literaturwissenschaft und Kulturgeschichte war von 1993 bis zu seiner Pensionierung 1998 Karlheinz Kasper (Lehr- und Forschungsschwerpunkt: russische Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts) beauftragt. Nach der Emeritierung des vormaligen Leiters der TAS Wolfgang Sperber wurde im Jahr 1995 Gerhild Zybatow auf die Professur für Ostslawische Sprachwissenschaft berufen, die sie bis 2016 inne hatte. Sie prägte die Leipziger Slawistik u.a. durch ihre Schwerpunkte im Bereich moderner linguistischer Theoriebildung und der Erforschung aktueller Veränderungen in den ostslawischen Sprachen aus der Sicht der Text-, Sozio- und Psycholinguistik. Zybatows Mitarbeiter Uwe Junghanns (heute Professor in Göttingen) gehörte zu den Mitbegründern der JungslavistInnen, deren Tagungen in den Jahren 1993 und 2004 in Leipzig stattfanden. Einen weiteren Schwerpunkt der Arbeit des Instituts bildete die Deutsch-Slawische Namenforschung (Onomastik), die insbesondere durch Ernst Eichler, Walter Wenzel, Karlheinz Hengst, und sodann von 2000 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2008 durch Jürgen Udolph vertreten wurde.
Im Zuge des Bologna-Prozesses zum Ende der 1990er Jahre, der eine Harmonisierung der europäischen Hochschulbildung und die Ausrichtung der Studieninhalte an die Erfordernisse der Arbeitswelt (employability) anstrebte, wurden die nach der politischen Wende 1989 eingeführten Magisterstudiengänge ab 2006 sukzessive durch Bachelor- und Masterstudiengänge ersetzt. Am Institut für Slavisitk wurden auf Bachelorebene die Kernfächer Ostslawistik und Westslawistik eingerichtet. Auf Masterebene wurde der M. A. Slawistik eingeführt.
Generell ruhen Forschung und Lehre am Institut für Slavistik auf vier Säulen: Literatur- und Kulturwissenschaft, Sprachwissenschaft sowie Fachdidaktik und Sprach- und Übersetzungspraxis. Neben der Ostslawistik (mit den Bereichen Russisch und Ukrainisch) wird die Westslawistik (mit den Bereichen Polnisch und Tschechisch) angeboten. Inhaberin der Professur für Ostslawische Literaturen und Kulturen ist Birgit Harreß, profiliert im Bereich der poetischen Anthropologie, der Dostoevskij-Forschung und der Forschung des Spannungsfeldes von Psychoanalyse und Literatur. Seit 2017 bekleidet Olav Mueller-Reichau die Professur für Slavische Sprachwissenschaft mit dem Schwerpunkt Ostslawistik. Mit seiner Expertise im Bereich der kognitiven Vermittlung von Sprache und Welt widmet er sich den Mechanismen des Zusammenspiels von sprachlichem (morphosyntaktischem und lexikalischem) und außersprachlichem (kontextuellem) Wissen bei der Bedeutungskonstituierung von Sätzen bzw. Äußerungen (Semantik/Pragmatik-Schnittstelle). Auf der Professur für Westslawische Sprachwissenschaft hat seit 1999 Danuta Rytel-Schwarz diesen Profilbereich v. a. durch Forschung und Lehre zur kontrastiven Beschreibung des Polnischen, Tschechischen und Deutschen sowie zur Valenzgrammatik geprägt. Daraus resultieren Kooperationsprojekte, auch grenzübergreifend in Zusammenarbeit mit der Karlsuniversität Prag und der Universität Wrocław (Partneruniversitäten). Seit 2007 ist Grit Mehlhorn Inhaberin der Professur für Didaktik der slawischen Sprachen. Neben der Lehrerausbildung für die Fächer Russisch, Polnisch und Tschechisch widmet sie sich Forschungsprojekten zur Mehrsprachigkeit, Sprachlernkompetenz und Fachdidaktik. Neu berufen wurde 2016 Anna Artwińska für die Fachgebiete Slawische Literaturwissenschaft und Kulturstudien mit dem Schwerpunkt Westslawistik. Die Schwerpunkte ihrer Forschung und Lehre sind u.a. Erinnerungskulturen (Shoah, Kommunistische Vergangenheit) und der Sozialistische Realismus.
Angesichts der vielfältigen Forschungsschwerpunkte am Institut für Slavistik wird eine noch stärkere Vernetzung innerhalb der Forschungslandschaft angestrebt; neben der strukturierten Ausbildung von Studierenden sollen weitere Forschungsprojekte den Blick für die Weiten der slawistischen Welt öffnen und Möglichkeiten der Anwendung dieses Wissens aufzeigen.
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