Die Rektorin der Universität, Eva Inés Obergfell, wies in ihrer Ansprache zur Eröffnung des Kongresses auf eigene biographische Verbindungen mit der romanischsprachigen Welt hin und betonte die Bedeutung der traditionsreichen Leipziger Romanistik für die Fächervielfalt und die interdisziplinäre Dynamik an der Alma Mater Lipsiensis. Als Festredner führte Gerhard Poppenberg (Heidelberg) in die marianische Ikonographie ein, um am Beispiel der rituellen Praktiken um die virgen de Guadalupe in Mexiko die Bedeutung einer religiösen Kultur der Präsenz aufzuzeigen.
Ein Novum des Leipziger Romanistentags waren drei international besetzte Plenarvorträge zu aktuellen Forschungsthemen aus den zentralen romanistischen Teildisziplinen (der linguistische Beitrag von Mathieu Avanzi, Neuchâtel, musste leider krankheitsbedingt entfallen): In ihrem literaturwissenschaftlichen Vortrag präsentierte Francisca Noguerol Jiménez (Salamanca) ein breites Panorama von zeitgenössischen, vor allem lateinamerikanischen Texten, die sie – unter anderem unter Rückgriff auf Überlegungen von Hans Ulrich Gumbrecht – anhand von Kategorien wie „Körper“ und „Materialität“ untersuchte, um so zu verdeutlichten, wie die Spannung zwischen Präsenz und Virtualität literarisch verhandelt wird. Mirjam Egli Cuenat (PH Nordwestschweiz) stellte in ihrem fachdidaktischen Plenarvortrag eine empirische Untersuchung zur Fähigkeit von Grundschülern vor, im Französischunterricht kohärente Texte in einer indirekten Kommunikationssituation zu produzieren. Der Vortrag knüpfte insofern an das Rahmenthema des Kongresses an, als Schriftlichkeit eine zeitversetzte, und damit „virtuelle“ Kommunikation erlaubt und als im Fremdsprachenunterricht „virtuelle“ Sprachkompetenzen im Sinne von Translanguaging aufgebaut werden können.
Das ambitionierte Kulturprogramm des Kongresses bot einen facettenreichen Einblick in aktuelle künstlerische Produktionen der Romania: Der italienische Autor Vincenzo Latronico las aus seinem jüngst auf Deutsch erschienenen Roman Le perfezioni (2022) und diskutierte im Literaturhaus mit Uta Felten (Leipzig) über Hyperrealität, Medialisierung der Wahrnehmung und Berlin als Sehnsuchtsort der digitalen italienischen Bohème. Noch am Eröffnungsabend lud die Schaubühne Lindenfels zur „queeren Nacht“, die Fragmente der Lyrik Pasolinis in einen imaginären Dialog mit ausgewählten Passagen aus dem autofiktionalen Roman Lo que aprendí de las bestias (2021) der argentinischen Filmemacherin Albertina Carri stellte. Im Anschluss wurde Carris postpornographischer Roadmovie Las hijas del fuego (2018) gezeigt.
Bereichert wurde der 38. Romanistentag vor allem durch die Präsenz von hochkarätigen internationalen Vertreterinnen und Vertretern des Fachs. So gaben etwa der argentinische Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Daniel Link (Buenos Aires) oder der argentinische Kulturwissenschaftler Jens Andermann (New York) neue epistemologische Impulse für eine Standortbestimmung der Romanischen Philologie im digitalen Zeitalter. Der Linguist Johannes Kabatek (Zürich) stellte vor voll besetzten Reihen sein neues Buch über Eugenio Coseriu vor und gab dabei wertvolle, auch persönliche Einblicke in ein bislang noch wenig beleuchtetes Kapitel der jüngeren Fachgeschichte.
Begünstigt durch herrliches Spätsommerwetter und die entspannte Atmosphäre am Campus wurde der Leipziger Romanistentag zu einer inspirierenden, kurzweiligen und ertragreichen Zeit des fachlichen Austauschs und der menschlichen Begegnungen. Nicht zuletzt gilt das für das Conference Dinner, das am Dienstagabend neben gutem Essen und Trinken einen stilvollen Rahmen für Geselligkeit und Unterhaltung jenseits des wissenschaftlichen Programms geboten hat. Die energiegeladene Live-Musik des multilingualen Berliner Samba-Kollektivs A Panda do Sol tat ihr Übriges, um die Kongressgesellschaft in Stimmung zu bringen.
Dem Organisationskomitee und allen an der Vorbereitung des Kongresses beteiligten Mitarbeitern und Studierenden war es eine große Freude, die aus aller Welt angereisten Gäste in Leipzig begrüßen zu dürfen. Der 38. Romanistentag wird uns in wunderbarer Erinnerung bleiben.