Vorwort
Im Rahmen des zurückliegenden Semesters haben sich die Studierenden des Wahlbereichs Onomastik mit dem Thema Namen in der Gesellschaft beschäftigt. Besonders ergreifend und herausragend erwies sich die Arbeit von Jonas. Als Kind einer russlanddeutschen Familie beschäftigen ihn – besonders seit dem Beginn des Krieges zwischen Russland und der Ukraine im Februar 2022 – die Auswirkungen des Konflikts auf die Anpassung von Migratinnen und Migranten. So fokussierte sich Jonas auf Namen und den an ihnen hängenden Identitäten. Das Gebiet Migrationsonomastik hat auch in der jüngeren Vergangenheit auf der 10. Mainzer Namentagung an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz Aufmerksamkeit erhalten; dies sollte den hohen Stellenwert dieser Thematik unterstreichen.
Alle im nachfolgenden Text beispielhaft genannten Namen sind rein zufällig gewählt und stehen in keinem Bezug zu real existierenden Personen.
Ein Vorwort von Lina Marie Christin Voigtsberger
Namen in der Gesellschaft
Wer mit wachsamen Augen durch die Welt spaziert, dem sollte und darf nicht entgangen sein, dass die deutsche Gesellschaft zunehmend diverser geworden ist. Die Bundesrepublik Deutschland versteht sich heutzutage offiziell als Einwanderungsland. Dennoch ist der gesellschaftliche Druck der Anpassung im Bereich Kultur, Wertvorstellungen und Traditionen (Assimilationsdruck) für viele Migrantinnen und Migranten bedauerlicherweise real und nach wie vor zu hoch. Eine Erscheinungsform des Drucks sind Namensänderung; dabei sind Namen doch identitätsstiftend. Manchmal erzählen Namen sogar Geschichten und konservieren Vergangenes. Sie sind einzigartig, genau wie jeder Mensch einzigartig ist. Theoretisch sollten wir sie vom Anfang unseres Lebens bis zu unserem letzten Atemzug und vielleicht sogar darüber hinaus mit Liebe, Würde und Respekt tragen. Deshalb habe ich mir die Frage gestellt, warum ein Mensch seinen Namen ändern („eindeutschen“) sollte, nur um gesellschaftlich akzeptierter zu sein? Ist ein Mensch nicht viel mehr als nur ein sprachliches Zeichen, als die Buchstaben, die wir sehen?
Ist ein Mensch denn nicht längst ein Teil unserer Gesellschaft, wenn er hier lebt; genauso wie du und ich?
Ist ein Mensch nicht längst ein Teil unserer Gesellschaft, wenn er hier geboren wurde; genauso wie du und ich?
Ist ein Mensch nicht längst ein Teil unserer Gesellschaft, wenn er hier in einer Schule lernt und regelmäßig zur Arbeit geht; genauso wie du und ich?
– Trotzdem werden viele Menschen oft anders beurteilt. Und das nur, weil sie keinen deutschen Namen tragen. Tatsächlich erleben viele Migrantinnen und Migranten trotz rechtlicher Gleichstellung weiterhin Ausgrenzung – teils subtil, teils offen –, etwa bei der Wohnungs- oder Arbeitssuche. Fakt ist: Namen, die auf eine nicht deutsche Herkunft hinweisen, werden oft zum Hindernis. Diese Form der Diskriminierung betrifft verschiedene Gruppen, aktuell auch viele russischstämmige Menschen, die in Deutschland leben. Seit dem Beginn des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine im Jahr 2022 berichten Betroffene verstärkt von gesellschaftlicher Ablehnung und Russophobie. In der Hoffnung, Vorurteilen zu entgehen oder bessere Chancen zu erhalten, entscheiden sich manche dafür, ihren Namen zu ändern. Sich zu dieser Maßnahme gezwungen zu sehen, ist aus allen Perspektiven und Betrachtungswinkeln bedauernswert. Ist es nicht traurig, sich aufgrund von u. a. Ausgrenzung gezwungen zu sehen, seine Identität aufzugeben? Um die Tragweite eines solchen Entschlusses zu verstehen, soll eine beispielhafte „Eindeutschung“ (Namensänderung) anhand des Namens „Wladimir Iwanowitsch Lebedew“ vorgenommen werden.
An dieser Stelle möchte ich die Erfahrungen einer Person, nennen wir sie „Wladimir Iwanowitsch Lebedew“, teilen. Diese Person kam als Spätaussiedler nach Deutschland. Bei der Ankunft vor etwa 30 Jahren musste dieser , heute in seinem Ausweis nur noch „Wladimir Lebedew“ genannt, Mensch bereits bei der Einbürgerung das identitätsstiftende Patronym „Iwanowitsch“ ablegen. (Unter einem Patronym, auch Vaternamen, versteht man einen Namen, der auf eine Ableitung des Vornamens des Vaters oder einem anderen männlichen Verwandten zurückgeht.) Heute im Jahr 2025 sieht sich diese Person, die gewissermaßen bereits ein Stück weit um ihre Identität beraubt wurde, gezwungen, ihre Herkunft weiter zu verschleiern. In Deutschland erfolgt die „Eindeutschung“ von Namen durch das Ersetzen des ursprünglichen Namens, z. B. durch ein deutsche Äquivalent oder eine lautlich verwandte Variante. Aus „Wladimir“ wird „Waldemar“. Und das nicht, weil Waldemar wirklich ein direktes Äquivalent zu Waldemar darstellt, sondern v. a. aufgrund der lautlichen Nähe. Übersetzt man die Bestandteile stellt man die Unterschiede fest: slaw. vladi („Macht“/„Herrschaft“) und slaw. mir (Friede); ahd. waltan („walten“/“herrschen“) und ahd. -mār „groß“/„berühmt“ (ahd. māren „verkünden“/„rühmen“). Aus „Lebedew“ wird mit viel Glück vielleicht „Vogel“ oder „Schwan“, also eine Übersetzung des Namens. Natürlich darf man nicht außen vor lassen, dass es nichtsdestotrotz auch transliterierte Namen gibt. Das bedeutet, dass Namen aus einem Schriftsystem in ein anderes überführt werden. Dabei handelt es sich oft um die Überführung eines Onyms in die lateinische Schrift. Dabei wird die möglichst genaue Nachbildung der Aussprache angestrebt, um zu gewährleisten, dass der Name lesbar wird. Aber fernab davon könnte es heißen: Das ist Waldemar Vogel. Was ist diesem Menschen von seiner ursprünglichen Identität geblieben?
Durch das Aufgeben des Namens geht oft auch ein Stück kultureller Selbstbestimmung verloren –und das nicht aus tiefster und eigener Überzeugung, sondern aufgrund eines Anpassungsdrucks, der von unserer Gesellschaft ausgeht. Dieser Verlust kultureller Selbstverständlichkeit ist ein Teil vieler migrantischer Realitäten, die im öffentlichen Diskurs über Integration und Diversität häufig unberücksichtigt bleiben. Die Förderung von Vielfalt wird zwar betont, doch strukturelle Hürden und gesellschaftliche Vorbehalte führen dazu, dass diese Vielfalt in der Praxis oft nur eingeschränkt anerkannt wird. Aus meiner Sicht sollte kein Mensch auf dieser Welt seine Identität aufgeben müssen, nur um akzeptiert zu werden. Deshalb wäre es wünschenswert, wenn unserer Gesellschaft mit einem wachsamen Auge durch die Welt spaziert und vorurteilsfrei agiert.