- Zur Frühgeschichte von Chemnitz im Kulturhauptstadtjahr -
Bisher gilt die von Kaiser Lothar III. und seiner Gemahlin vollzogene Gründung des Benediktiner-Klosters auf dem heutige Schloßberg als die Geburtsstunde von Chemnitz. Zuverlässig ist diese Angabe, denn sie wurde offenbar nach Fertigstellung des ersten Klosterbaus nach den damals üblichen etwa sechs Jahren Bauzeit im Jahr 1143 in einer Urkunde von König Konrad III. ausdrücklich bestätigt (CDS II 6, Nr. 302). Die Urkunde enthält allerhand wichtige Angaben, auch diese: Auf die Ausfertigung dieser Urkunde hatte Markgraf Konrad von Meißen besonders gedrängt. Er war damals von Anfang an Klostervogt und somit vom Reich bevollmächtigter Vertreter des Königs in allen weltlichen Angelegenheiten des Konvents. Das betraf besonders den Schutz und die Förderung des Reichs-Klosters.
Weltliche Gründe für die Klostergründung
Mit der Gründung des Klosters verfolgte die Reichsspitze einen durchaus zugleich auch weltlichen Plan. Das zu jener Zeit am weitesten im Osten des ostfränkischen Reiches gegründete Kloster sollte den Auftakt für die Besiedlung bis zum Gebirgskamm in den Waldgebieten und deren Vorland südlich der Altsiedelgebiete um Altenburg und Rochlitz bieten.
Angeregt wurde in der Urkunde von 1143 sogar als Auftrag an den Kloster-Konvent, einen Freihandelsmarkt ins Leben zu rufen und damit wirtschaftlich aktiv zu werden. Diese Zielstellung war sehr visionär abgefasst. Sie ist mit Rodung und Landerschließung durch die deutsche bäuerliche Besiedlung bekanntlich wenigstens teilweise (also ohne forum publicum – zentralen Freihandelsmarkt) unter deutsch-herrschaftlicher Leitung in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts unter Kaiser Friedrich I. Barbarossa zügig bis in die Kammlagen realisiert worden.
Unklar war bisher jedoch, was Kaiser und Kirche bewogen haben könnte, ausgerechnet jene Örtlichkeit locus kameniz dictus als Klosterstandort auszuwählen:
Auf diese Frage gab es eigentlich nie eine Antwort. Alle Bemühungen von Archäologen und Historikern, Spuren von Siedlern aus der Zeit vor dem Jahr 1143 zu finden, waren und sind bis heute ergebnislos geblieben. Und geblieben ist folglich die Frage, ob sich nun heute eine Antwort wird geben lassen.
Gibt es einen Weg zu einer befriedigenden Antwort?
Ein Blick in die Zeit vor 1143 bzw. vor 1136 ist nur dann möglich, wenn wir die ermittelten Bodendenkmale der Archäologie sowie auch die vorhandenen Sprachdenkmale zur älteren Zeit miteinander in Verbindung bringen. Doch der Weg ist „steinig“ und kompliziert. Und er wird verständlicherweise skeptisch beäugt und sogar bezweifelt werden.
Was ist aus den Bodendenkmalen als Antwort zu gewinnen?
Die Frühgeschichtsforschung hat den Verlauf der in Urkunden aus dem 12. Jahrhundert wiederholt genannten semitae Bohemicae antiquae gründlich erforscht, beschrieben und auf Karten präsentiert. Die Einzelheiten können hier nicht wiederholt werden. Die Abbildung einer Karte von Prof. Dr. Gerhard Billig bietet ein ausreichend klares Bild zu den sogen Altwegen nach bzw. von Böhmen quer durch das bewaldete Gebirgsland (vgl. Abb. 1). Und die erläuternde Bezeichnung antiquae gibt zu erkennen, dass es sich bei diesen alten Trassen um bereits seit langer Zeit, wahrscheinlich seit Jahrhunderten, genutzte Wegeverläufe schon damals gehandelt hat. Der Fund einer winzigen keltischen Goldmünze in Gundorf bei Leipzig wird von der Archäologie auf das 3. Jahrhundert v. Chr. datiert und mit vergleichbaren Funden aus keltischer Zeit in Nordböhmen in Verbindung gesehen (Freie Presse-Mitteilung 28.10.2025, S. 2).
Es besteht kein Grund daran zu zweifeln, dass die Slawen diese semitae für den Handel und sämtliche Kommunikation nach beiden Seiten vom Waldgebirge (dem heutigen Erzgebirge) genutzt haben. Daher kommt ja die Benennung als semitae Bohemicae. Die Slawen sind spätestens zwischen 700 und 800 n. Chr. im weiten Raum zwischen Ostsee und Böhmen dauerhaft sesshaft geworden. Und sie waren es, die früh auch den Bedarf an lebenswichtigen Gütern (wie z. B. Salz) bis hin zu verlockenden Luxusgegenständen (wie Bernstein) über Handel und ihn vollziehende Händler sicherten.
Es hat jedoch bis heute niemand die bei diesen Reiserouten zu bewältigenden Entfernungen bedacht. In den slawisch besiedelten Altsiedelgebieten bis in den Gau Plisni (Altenburg/Schmölln) oder in den Gau Rochelinzi (Raum um Rochlitz) war das sicher alles von Norden her kein Problem. Doch dann setzten die Waldgebiete ohne Bleibe und ohne Versorgung auf der Strecke ein. Die Altwege hatten von NW nach SO verlaufend allein auf den im Kartenbild erfassten Wegstrecken mindestens 40 bis über 60 und mehr km Länge. Dazu kamen jeweils noch die Distanzen zu den Ausgangsorten bzw. bis zu den nächsten Zielen außerhalb der gebirgigen Waldzone.
Es lässt sich also feststellen, dass im Mittelalter jene durch das Waldgebiet bergan führenden semitae einerseits in slawischer Zeit nicht erst angelegt wurden, sondern offensichtlich von slawischen Händlern bzw. „Reisenden“ von beiden Seiten des Gebirges weiter genutzt wurden. Und es ist ebenso zu konstatieren, dass die Verweildauer auf diesen semitae bis zu mehreren Tagen betrug. In gut wegsamem Gelände wird die täglich machbare Reisestrecke auf bis zu 30 km für das Mittelalter angesetzt. In bergigem und noch dazu bewaldetem Gebiet ist eher mit nur 20 bis 25 km an einem Tag zu rechnen. Für die Strecken auf dem Kartenbild ergeben sich somit je nach Weglänge zwischen zwei bis drei oder auch vier Tage.
Diese Situation dürfte recht schnell und nachhaltig das Bedürfnis nach „Stationen“ für Rast, Schutz, Verpflegung und Nächtigung von Mensch und Tier geweckt haben. Nach solchen hat bislang niemand Ausschau gehalten. Aus Gesprächen mit Historikern zu diesem Thema ergab sich lediglich, dass man mit von den Händlern vielleicht genutzten „Provisorien“ (welcher Art?) gerechnet hat. Eigentlich ist aber weder die Länge der Wege noch die Dauer der Reise auf ihnen thematisiert worden.
Was ist aus Sprachdenkmalen als Antwort zu gewinnen?
Gleich anfangs ist zu fragen, ob es denn überhaupt nutzbare Sprachspuren bzw. einzeln Sprachformen aus so früher slawischer Zeit gibt. Und an der Stelle wird es wirklich kompliziert. Um dazu eine stichhaltige Auskunft geben zu können, die auch von Nichtlinguisten nachvollzogen werden kann, bedarf es im Grunde einer Fülle von Spezialkenntnissen zur slawischen Sprach- resp. Lautentwicklung und auch zur Wortbildung in unterschiedlichen Zeiten. Ohne das alles hier auszubreiten, sollen dennoch versucht werden, einiges möglichst verständlich darzubieten.
Als Ausgangspunkt dient ein bisher ungeklärtes Phänomen: Es gibt im Wald- und Erzgebirgsraum sowie seinem Vorland einige in den mittelalterlichen Urkunden genannte Benennungen, die eindeutig slawisch sind, aber ebenso eindeutig deutsche Reihendörfer mit Waldhufenflur kennzeichnen. Das beginnt mit Taura und setzt sich nach Süden fort mit alten Formen von Lugau, Mühlau, Oederan, Raschau, Zethau, Zöblitz, Zschocken.
Es ist daher verständlich, dass selbst die Sprachforschung bemüht war, dieses Sprachgut zumindest teilweise als Bildungen aus dem Deutschen zu erklären. Im Lexikon „Historisches Ortsnamenbuch von Sachsen“ (3 Bände, Berlin 2001) lässt sich das bei Lugau, Mühlau, Raschau und Zöblitz leicht nachschlagen. Es sollte damit versucht werden, die einwandfrei deutschen Ortsanlagen von den slawischen ON zu „befreien“. Damit sollte der Widerspruch zwischen slawischem Sprachdenkmal und deutsch gestaltetem Objekt beseitigt werden.
Nun hat sich dieses Bemühen aber als Fehlgriff erwiesen. Die Einzelheiten bzw. die Widerlegung der versuchten deutschen Etymologien erspare ich dem Leser und mir jetzt. Das deswegen, weil es eine einfache und sogar gut zu verstehende Lösung für die tatsächlich sämtlich slawischen Benennungen gibt. Und das sind die Fakten dazu:
- All diese slaw. ON befinden sich an den oben auf der Karte ausgewiesenen Altwegen.
- Diese bis heute gültigen Onyme sind wahrhafte Sprachdenkmale, denn sie beruhen alle auf Bildungen mit einer übereinstimmenden Struktur: Sie bestehen a) aus einem Namen für eine Person und geben b) deren persönliches Eigentum bzw. deren individuellen Besitz an. Den Bildungsprinzipien slawischer Onyme entsprechend enthalten sie also einen PN plus ein den persönlichen Besitz der Person anzeigendes Possessivsuffix.
- Die PN sind in der Regel Kurznamen aus der täglichen slawischen Kommunikation des Mittelalters.
- Als Suffixe kommen je nach lautlicher Struktur des Kurznamens nur die drei Possessiv-Suffixe -in, -jь und -ov vor.
- Dieser Bildungstyp mit der Strukturformel [KN + Poss.-Suffix] ist der Sprachkontaktforschung schon lange aus den Altsiedelgebieten bekannt. Dort kommt er seit Ende des 8. Jahrhunderts vor und kennzeichnet die slawische Ausbauzeit. Markiert wurden so also in den Altsiedelgebieten die ersten neuen Niederlassungen einzelner Slawen außerhalb der Niederlassungen von ganzen Familienverbänden aus der Anfangszeit der Landnahme um und nach 700 n. Chr.
- Die Onyme aus der Zeit um 800 n. Chr. lassen sich nur verstehen als Namen für individuelle Niederlassungen an den Altwegen. Es ist zwar nicht mehr beweisbar, aber die Annahme liegt nahe, dass es sich dabei um a) bewusst in größeren Abständen entlang der Altwege neu angelegte Einzelniederlassungen jeweils nur einer Familie gehandelt hat. Und es ist wahrscheinlich b) davon auszugehen, dass damit zugleich auch eine bestehende Bedarfssituation seitens der slawischen Händler befriedigt werden sollte. Die Indizien sprechen dafür, dass hier erste „Stationen“ für Schutz und Rast entstanden sind.
- Hinzu kommt noch, dass sich die durchaus recht zahlreichen slawischen Gewässernamen im Erzgebirge alle um die slawischen „Stationen“ an den Altwegen gruppieren. Ein klares Zeichen dafür, dass sie von deren Bewohnern gebildet und über Generationen verwendet wurden (vgl. die v. Verf. differenzierte Zuordnung der Hydronyme zu den „Stationen“ in der Fachzeitschrift „Namenkundliche Informationen / Journal of Onomastics“ Bd. 116, 2024, S. 155-188).
Welche Schlussfolgerung ergibt sich für die semitae?
Eine zweite Karte macht deutlich, dass die slawischen Namen an den Altwegen die ältesten und damit ersten vereinzelten Niederlassungen von jeweils einem Slawen (mit seiner Familie) anzeigen (vgl. Abb. 2). Mit diesen Einzelniederlassungen in Form von einem Gehöft zur Selbstversorgung ist ab etwa 800 n. Chr. zu rechnen. Dazu wurde wahrscheinlich eine lichte Stelle mit Wasserführung gewählt.
Was ergibt sich aus dem gewonnenen Einblick für den Raum Chemnitz?
Auf der Abb. 2 mit der Karte zu den Altwegen und den vermutlichen slawischen „Stationen“ ist in ausgesprochen zentraler Lage der zunächst nur für den Leser als Orientierung dienende Eintrag „Chemnitz“ auffällig. Gibt es dort in der Nähe einen Hinweis auf eine mögliche frühe slawische Station?
In einer Verkaufsurkunde des Klosters an die Stadt bietet sich eine Antwort. 1402 verkaufte der Konvent an die flächenmäßig eingeengte Stadt Chemnitz einige Fluren. Darunter ist auch Borssendorff (CDS II 6, Nr. 76).
Was ist Borssendorff als Geschichtsquelle zu entnehmen?
Diese nur ein einziges Mal vorkommende Sprachform ist aufschlussreich. Das Erstglied Borssen ist ebenso wie das ebenfalls erwähnte Beroldisdorff (Bernsdorf) offenbar einer älteres Vorlage entnommen und infolge dessen ursprünglich zu lesen [borschen]. Dahinter verbirgt sich eine slawische Ausgangsform *Boršin [borschin] mit der Bedeutung ‚Besitz/Eigentum eines Borscha‘. Es ist der Kurzname zu einem Vollnamen Borisłav o. ä.
Die Geschichtsforschung hat schon lange geklärt, dass Borssendorff identisch ist mit dem um 1230/50 in Zinsnotizen des Klosters genannten Gut des Abtes, der uuilla abbatis (CDS II 6, Nr 303). Im mittelalterlichen Latein bezeichnete villa an erster Stelle ‚Besitztum, Domäne, Hofgut, Landgut‘.
Es handelte sich also bei Borssen bzw. slaw. *Boršin nicht um ein Dorf, sondern um ein einzelnes Gehöft, das zum Klostergebiet gehörte und der persönlichen Nutzung des Abtes diente. Es ist vergleichbar mit den sonst bei Klöstern üblichen „Tafelgütern“ zugunsten des jeweiligen Abtes.
Der Zusatz -dorff 1402 dürfte auf den Notar zurückgehen. Die in der Urkunde genau beschriebene Flurgröße spricht eindeutig gegen die Annahme eines Dorfes.
Im 16. Jahrhundert wird der längst für Deutsche unverständliche Name des ursprünglichen Einzelgutes mit neuem Sinn erfüllt: Sekundäre semantische Motivierung ergab einen eigentlich neuen Namen, berliefert als 1504 platz der Borstanger genant (CDS II 6, Nr.440) sowie 1548 Borstenanger. Letztere Form ist heute noch auf dem Stadtplan von Chemnitz nördlich der Franz-Mehring- Straße zu finden.
Das Einzelgehöft Borschin – mit in mhd. Zeit Veränderung von auslautend -in zu -en – befand sich in Klosternähe zwischen dem Pleißenbach im Norden und dem von der Zwickauer Mulde bei heute Waldenburg kommenden Altweg mit weiterem Verlauf nach SO zur Zschopau hin.
Mit gewisser Vorsicht können wir also ab 800 n. Chr. mit der slawischen Einzelniederlassung eines Slawen Borscha oder evtl. auch eines Boresch rechnen. Da 929 die militärische Einnahme des gesamten slawischen Siedelgebietes östlich der Saale unter Kaiser Heinrich I. vollzogen wurde und danach die Siedelstellen von deutschen Notaren weitgehend bereits im 10. Jahrhundert erfasst wurden, ist mit dem Gut slaw. *Borschin bereits ab dem 9. Jahrhundert mit ziemlicher Sicherheit zu rechnen.
Die Gutsbewohner sind es wahrscheinlich auch gewesen, die einige weitere slawische Namen in ihrer Umgebung geprägt haben. Das gilt für die Hydronyme wie das waßer dy Plyßen (Pleißenbach), ferner für die Gablenz und Bahrebach sowie Berlisbach.
Wie ist nun hier der locus kameniz einzuordnen?
Die Gutseigner von Borschin haben vermutlich erstmalig einen markanten Felsen in ihrer Nähe mit der Sprachform *Kamenьcь belegt. Diese Form bedeutete ‚kleiner Fels‘ (Diminutivbildung) oder auch ‚steinige Stelle‘ (Bildung mittels gleichem Suffix). Im Niedersorb. ist kamjeńc < voraltsorb. *kamenьcь noch heute ‚steiniger Ort‘ sowie auch ‚kleiner Fels‘.
*Kamenьcь muss bis etwa Mitte des 10. Jahrhunderts als Sprachform gebildet worden sein und als gesprochen [kamenĭzĭ] noch vor 1000 n. Chr. ins
Althochdeutsche (Ahd.) übernommen worden sein. Das lässt sich so exakt ermitteln, weil nämlich die slawischen ultrakurzen Vokale – also auch das /ь/ = gesprochen als superkurzes [ĭ] – zum Ausgang des 10. Jahrhunderts verändert wurden und im Suffix -ьcь das /ь/ in beiden Positionen völlig schwand. Da aber die Urkunden auch in mhd. Zeit stets Formen auf [its] in der Schreibung <iz> ausweisen, muss das /i/ auf dem slaw. /ь/ beruhen, vgl. 1218 Camniz, 1226Kamniz, 1235 Cameniz, dann 1254 Kemeniz. Die Unterstreichungen machen hier nur aufmerksam auf den Schwund der nachtonigen Silbe im Deutschen im 13. Jahrhundert. Ab Mitte des 13. Jhs. wird auch der inzwischen eingetretene sekundäre Umlaut von a > e im Toponym gekennzeichnet.
Wäre hingegen der Name für den kleinen Fels erst nach 1000 n. Chr. vom Slawischen ins Deutsche gelangt, hätte sich nie Kameniz und auch nie Kemniz/Chemnitz ergeben können. Die ins Deutsche gelangte Form hätte dann aus altsorb. *Kameńc zwingend zur Form Kamenz geführt – wie in der Lausitz für die Stadt Kamenz an der Schwarzen Elster.
Was ist zusammenfassend feststellbar?
1. 1143 locus kameniz dictus besagt klar und zweifelsfrei, dass der Name keine ad-hoc-Bildung im 12. Jahrhundert war, sondern schon vorher bestand. Am wahrscheinlichsten ist wohl, dass diese Sprachform jenen kleinen Felsen bzw. steinigen Ort kennzeichnete, auf dem etwa von 1136 bis 1142 das Benediktiner-Kloster errichtet wurde. Der Fels ist heute noch gut am Fuß des Schloßbergmuseums zu erkennen. Die Nomination des Felsens geht mit einiger Sicherheit auf die Bewohner der Einzelniederlassung Borschin aus dem 9. Jahrhundert zurück.
2. Die Klostergründung fand nicht in einem völlig menschenleeren Waldgebiet statt. Weltliche und kirchliche Führungskräfte wussten seit dem 10. Jahrhundert von der Existenz vereinzelter slawischer Niederlassungen an den semitae Bohemicae antiquae. Die Ortswahl für das Kloster fiel in das Gebiet an der Schwelle zum Gebirge und damit zugleich etwa ins Zentrum der das damalige südwestliche Gebiet in der Mark Meißen durchziehenden Altwege. Trotz der Weitläufigkeit bzw. mächtigen Waldausdehnung besaßen die Reichsspitze und ihre Beauftragten offensichtlich recht gute und genaue Informationen zum gesamten Territorium, zu Stellen mit vereinzelten Bewohnern sowie auch über die sprachlichen Benennungen. Die primär nur den Besitz einzelner Personen anzeigenden slawischen Onyme wurden beim Landesausbau im 12. Jahrhundert auf die neuen deutschen Siedlungen in der Nähe übertragen. Diese sogen.Transonymisierung wurde auch bei den slawischen Gewässernamen vollzogen.
3. Nicht mehr zutreffend ist meine frühere Annahme aus dem Jahr 2018, dass mit locus kameniz die Wohnstelle von deutschen Wolfsjägern aus dem 11. Jahrhundert gemeint gewesen sein könnte. Der Chemnitz-Name ist deutlich älter. Er ist im 9. oder allerspätestens im frühen 10. Jahrhundert gebildet worden. Er ist dann zwischen Mitte und Ende des 10. Jahrhunderts von Geistlichen als Notaren resp. ersten deutschsprachigen „Verwaltungskräften“ ins Ahd. übernommen worden.
4. Und hinfällig geworden ist auch die seit Jahrhunderten als sicher geltende Meinung, der Chemnitz-Name für die Stadt sei vom Flussnamen abgeleitet. Das slawische Hydronym 1174 Kameniza ist sicher auch bereits im 9. Jahrhundert gebildet worden, aber mit dem Suffix -ica [itsa]. Die Bildung kann im Mündungsgebiet des Flusses erfolgt sein, zumal sich dort auch die größten Steinbrocken im Flussbett befinden. Die Sprachformen 1143 locus kameniz und 1174 Kameniza sind zwei ganz unterschiedliche Bildungen als Ableitungen von dem urslaw. Wort für ‚Fels,Stein‘.
5. Und schließlich sei noch auf eine neue Erkenntnis hingewiesen: Der bei Bischof Thietmar von Merseburg in seinem Chronikwerk angegebene Märtyrertod von Bischof Arn von Würzburg 892 ist nicht am hiesigen Chemnitzfluss eingetreten, sondern im Gau Daleminzi in der Nähe von Mügeln, also im nördlichen Sachsen. Thietmars Erwähnung von Camenici und der damaligen Geschehnisse hat nichts mit dem Chemnitz-Fluss im Erzgebirgsvorland zu tun. Dieser Forschungserfolg wurde erst Ende 2024 erzielt (zu den letzten beiden Punkten vgl. Verf. in Würzburger Diözesangeschichtsblätter 87, 2024, S.361-366).
Erstmals ist nun zur Frühgeschichte von Chemnitz und seinem weiteren Umland bis ins Westerzgebirge eine Blickrichtung in die Zeit lange vor dem 12. Jahrhundert eröffnet worden. Fakten aus der Frühgeschichtsforschung und der Sprachkontaktforschung haben es ermöglicht, mittels interdisziplinärer Kombination mindestens drei Jahrhunderte weiter zurück und damit bis in die Zeit um 800 n. Chr. zu gelangen. Die kombinatorische Analyse und Auswertung des archäologischen Befundes sowie von Sprachformen als überkommenes immaterielles Erbe, bezeichenbar als „Kommunikationsscherben“ aus alter Zeit, hat sich als hilfreich erwiesen. Wir sind erstmalig zu Wissen von menschlichen Aktivitäten an sogar grob lokalisierbaren Stellen im 9. und 10. Jahrhundert im Gebirgswald und seinem Vorland gelangt.
DZ: 17.200