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Kaulitz – ein Ortsname (ON) mit sprachgeschichtlichem Quellenwert

Östlich von Salzwedel liegt in der Altmark westlich von Arendsee das kleine Dörfchen Kaulitz. Der Name ist früh überliefert: In der Ausstattungsurkunde von Kloster Arendsee wird der Ort genannt. Es heißt dort 1184 villam teutonicam … kauliz und etwas später 1208 cauwelitz. Diese historischen Namenformen nennt schon Alexander Brückner in seiner 1879 in Leipzig erschienenen Schrift „Die slavischen Ansiedlungen in der Altmark und im Magdeburgischen“ (Nachdruck Leipzig 1984), S. 37. Im Quellenverzeichnis ist bei ihm zuerst der Codex Diplomaticus Brandenburgensis angegeben. 

Wie wurde der ON bisher erklärt?

In dem bekannten vierbändigen Kompendium „Die slawischen Ortsnamen zwischen Saale und Neiße“ von Ernst Eichler ist der ON Kaulitz nicht enthalten. Die vor weit über hundert Jahren damals von Alexander Brückner als Hochschullehrer für „Vergleichende Grammatik der slavischen Sprachen an der Universität Lemberg“ gegebenen Hinweise auf einen möglichen etymologischen Zusammenhang mit einer slaw. Basis kob- wie in kobyla ‚Stute‘ oder kov- wie in koval ‚Schmied‘ lassen sich beim heutigen Forschungsstand nicht mehr aufrechterhalten. Dagegen spricht im Einzelnen:

Die ältesten Schreibungen zeigen als tontragenden Vokal zweifelsfrei ein /a/. Dieses konnte um 1200 noch nicht einer mundartlichen Senkung im Deutschen zu /o/ unterliegen. In dieser Zeit wurden die ON in der Kommunikation zwischen Slawen und Deutschen noch in ihrer ursprünglichen altsorbischen (aso.) Lautform gebraucht. Nur in den Auslautsilben traten erste Abschleifungen und Verkürzungen auf, was zumeist den Auslautvokal betraf.

Auch ist eine Spirantisierung von /b/ zu /w/ um 1200 auszuschließen. Ein solcher Vorgang ist sonst niemals so früh nachzuweisen. Er tritt erst in späterer Zeit nach 1400 urkundlich in Erscheinung und betrifft die Namen in rein binnendeutschem Gebrauch.

Wie sind die Belege in ihrer Lautform zu verstehen?

Es ist nun zuerst zu fragen, wie die historischen Belege wohl zu lesen sind, welche gesprochenen Lautformen der Verschriftlichung zugrunde liegen. Keinesfalls ist der Erstbeleg kauliz mit Diphthong zu lesen. Vielmehr gilt die Lesart [kawlits]. Das <u> gibt daher letztlich aso. /v/ wieder. Und die Schreibform cauwelitz ist zu lesen als [kawelits] mit der für unsere Tage heute ungewöhnlichen graphischen Variante von <uw> neben auch möglichen Schreibungen <uu> oder <uv> für gesprochen /w/ bzw. aso. /v/.

Damit scheiden auch alle Gedanken an eine Verbindung des ON Kaulitz mit aso. kula ‚Beule, Buckel‘ bzw. im geographischen Sinne als ‚Erhebung‘ aus.

Beachtenswert ist der in der Urkunde von 1184 gegebene Hinweis auf Kaulitz als villa teutonica. Das ist sicher so zu verstehen, dass es sich um ein in der Landesausbauzeit in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts angelegtes Dorf handelt, gegründet von deutscher Herrschaft und – oder zumindest – mit deutschen Siedlern. Den Namen aber haben die Slawen in den benachbarten Orten gegeben. Als aso. Ausgangsform ergibt sich *Kavelic-. Während die Form von 1184 bereits den Vokal in der nachtonigen Silbe infolge Synkope, also Reduktion in der Silbe direkt nach der betonten ersten Silbe, als deutsche Verkürzung im Inlaut mit [kawl-] dokumentiert, zeigt die Form kurz nach 1200 die zweite Silbe noch nach der slawischen Sprechweise unverkürzt als [kawel-] und entspricht damit der aso. Ausgangsform besser.

Was aber verbirgt sich nun semantisch hinter den frühen Schreibweisen? Welche Etymologie liegt dem ON Kaulitz zugrunde?

Auszugehen ist von einer Bildung aso. *Kavelic- mit dem aus mittelniederdeutsch (mnd.) kāavel entlehneten Lexem aso. *kavel. Das mnd. Wort hatte die Bedeutung ‚Stück Holz zum Losen, Losanteil‘. Es verweist in der ON-Form auf den bei der Neuverteilung von Land dort in der Altmark offensichtlich beobachteten Vorgang der Landvergabe mittels Verlosung. Das war ein durchaus auch andernorts angewandtes Verfahren. Die Altsorben kannten es vorher nicht und haben daher das Wort mit seinem Inhalt in ihren lokalen Dialekt entlehnt. Dieser Entlehnungsvorgang hat sich also erst in der Landesausbauzeit in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts vollzogen und ermöglicht damit eine selten so genaue zeitliche Einordnung. Bedeutungsmäßig ergibt sich somit für den ON Kaulitz etwa ‚Ort mit Landvergabe mittels Los‘ bzw. auch ‚Ort der Leute auf den Kaveln‘. Im späteren Hochdeutsch erscheint das Wort meist als Kabel, ist auch in der Flurnamenforschung mit Die Kabeln nachgewiesen (vgl. H. Naumann, Die Orts- und Flurnamen der Kreise Grimma und Wurzen. Berlin 1962, S. 271).

Was macht nun den besonderen sprachgeschichtlichen Wert des ON Kaulitz aus?

Dazu sind mehrere Antworten möglich und nötig:

  1. Es ist zunächst die Dokumentation eines Lehnwortes aus dem Mnd. im westlichen Aso. im 12. Jahrhundert. Bisher war dieses Lexem im Aso. überhaupt nicht bekannt. Es ist auch in keinem Wörterbuch zu den beiden sorbischen Sprachgebieten genannt, weil es offenbar bereits im 13. oder 14. Jahrhundert nicht mehr gebraucht und so zum Archaismus wurde. Aso. *kavel ‚Los, Losanteil‘ geriet in Vergessenheit, da keine entsprechende Landverteilung mehr erfolgte.
  2. Bisher war nur die Entlehnung poln. kawał aus dem Mnd. bekannt. Das Poln. hat das Wort auch ans Ukrainische und Weißrussische weitervermittelt (vgl. E. Berneker, Slavisches etymologisches Wörterbuch. Bd.I, Heidelberg 1924, S. 495). Es liegt somit zugleich eine ganz seltene westaso.-altpoln. Isolexe vor. Im Poln. ist das Lehnwort auch in der Familiennamengebung mit Kawał und weiteren Ableitungen nachgewiesen.
  3. Einen vergleichbaren ON findet man auch in poln. Kowalewo mi den zur Überlieferung von Kaulitz nahezu parallelen Formen 1376 Kauwil, 1399 Kawel und späterer Angleichung an ON mit poln. kował ‚Schmied‘ (vgl. K. Rymut, Nazwy Miast Polski, Bd. 5, S. 220 und das Lemma Kawel in Bd.4).
  4. Der slaw. bzw. aso. ON Kaulitz wurde von den slawischen Bewohnern in der Nachbarschaft für einen deutsch besiedelten Ort gebildet. Es liegt also keinesfalls eine „Eigenbenennung“ vor. Und der aso. Name hat sich auch durchgesetzt, ist also sowohl von der herrschaftlichen deutschen Kanzlei als auch von den Bewohnern selbst mit übernommen worden.
  5. Das aus dem ON Kaulitz sicher erschlossene aso. *kavel ist in Darstellungen zum historischen slawischen Sprachschatz künftig als eine aktuelle Entlehnung aus dem 12. Jahrhundert mit zu berücksichtigen.
  6. Abschließend ist noch zu beachten und zu erläutern, dass das Zeichen <au> für den gesprochenen deutschen Diphthong eine späte und ganz sekundäre Erscheinung in dem ON Kaulitz ist. Ein im mnd. Sprachraum gesprochenes [kawlits] wurde angepasst an bekannte Kaul-Wörter wie Kaulbarsch und Kaulquappe. Es erfolgte zu dem längst semantisch unverständlichen Kawl- eine sogenannte sekundäre semantische Verankerung in dem vertrauten und alltäglichen Kaul-. Eigentlich handelt es sich dabei aber nur um eine scheinbare sekundäre semantische Verankerung in der deutschen Sprache.