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Frühe Niederlassungen von Slawen im Gebirgswald 

Allgemein bekannt ist, dass es im Erzgebirge und seinem Vorland eine Reihe von Orten gibt, die keine ursprünglich deutschen Namen tragen. Äußerlich erkennbar sind diese Ortsnamen (ON) 

a) an den Endsilben -itz, -litz, -nitz, -witz wie z. B. Grähnitz, Zöblitz, Claußnitz, Lungwitz;

b) an ganz vereinzelt auftretendem Auslaut auf -enz (Gablenz) oder -ung  (Natzschung); 

c) an -au und eigentlich ganz deutsch wirkend, aber mit einem ganz undurchsichtigen Erstglied: Glauchau, Gornau, Lugau, Schlettau und Zethau;

d) vereinzelt auf -au mit scheinbar eindeutig deutschem Lautbild: Bockau, Raschau, Rübenau und Wiederau;

e) auf -a wie Pöhla, Sayda, Schlema, Taura und Tauscha sowie auf -an wie Oederan.

 

Wie wurde bisher die Entstehung dieser slaw. ON im Erzgebirge erklärt? 

Relativ einfach und nahezu selbstverständlich ergab sich, dass Slawen die Namengebung sowohl für Wasserläufe als auch für Siedelstellen bewirkt haben. Doch dazu kam die Frage, wann und wie man sich das vorzustellen habe bzw. vorstellen könnte. Da es keinerlei urkundliche Angaben zu diesem slawischen  Namengebungsprozess gibt und aus dem Mittelalter vom 7. bis 12. Jahrhundert auch gar nicht geben kann, blieb für eine Erklärung nur eine theoretische Annahme, also die eine und andere Vermutung

Annahme Nr. 1: Die in den Altsiedelgebieten Plisni (Altenburger Land und Raum Schmölln) und Daleminzi (Lommatzscher Pflege, von Leisnig über Döbeln bis zur Elbe) sowie Rochelinzi (Raum um Rochlitz) zwischen 700 und 800 n. Chr. sesshaft gewordenen Slawen sind wohl auch zeitweise zum Nahrungserwerb weiter nach Süden ausgezogen. Sie haben dabei auch im dichten Gebirgswald als Fischer, Jäger, Sammler und Zeidler (Bienenzüchter) zur eigenen Orientierung Gewässern und anderen geographischen Auffälligkeiten slawische Namen gegeben. 

Nun hat diese Erklärung einen Haken. Die beim „Ausschwärmen“ zum Angeln oder zu behaglicher Pirsch bis in den heutigen Erzgebirgswald hinein zurückzulegenden Wegstrecken betrugen jeweils mindestens zwischen 50 und 60 km, bis ins obere Gebirge sogar noch mehr. Das allein schon spricht gegen  diesen Erklärungsversuch. 

Im Mittelalter betrug die täglich bewältigbare bzw. leistbare „Reisestrecke“ entlang von bekannten Trassen bis zu 30 km. Im Waldgebiet mit den Steigungen ist sicher mit deutlich weniger km zu rechnen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass eine selbst recht wagemutige und  risikobereite Gruppe von Slawen zum Nahrungserwerb ihre fruchtbaren Regionen verlassen hat. Noch dazu, um Fisch oder Fleisch bzw. Honig aus weiten Entfernungen einzubringen. Immerhin hätten diese Slawen nicht nur für Tage, sondern für  Wochen in den doch letztlich kargen Wald hinein ziehen müssen. Und das dann ohne Schutz vor Wind und Wetter über viele Tage oder gar Wochen und Monate. 

Das ist einzelnen Forschern in Geschichte und Sprachwissenschaft auch schon vor Jahrzehnten klar und einleuchtend gewesen. Hinzu kam, dass die Benennung von Bächen rein sinnlos gewesen wäre, da es ja keinerlei Beschriftung oder sonstige Markierung und noch dazu mittels Namen im Wald oder seinem Vorland gab. Die verliehenen Namen hätten eine Saison nicht überlebt!  Gesucht wurde daher nach einer anderen Erklärung.

Annahme 2: Bekanntlich sind die slawischen Namen im Erzgebirge in der Zeit des großen Landesausbaus und der damit verbundenen bäuerlichen Kolonisation zu ON geworden. Wie konnte das geschehen? Als Antwort bot sich an, davon auszugehen, dass Slawen an Rodung und Besiedlung unter deutscher herrschaftlicher Leitung beteiligt gewesen sein müssen. Und diese in Gemeinschaft mit Deutschen siedelnden Slawen wurden als die – offenbar sehr beflissenen und rührigen – Namengeber angesehen. Diese Ansicht hat sich bis heute gehalten. Dennoch ist diese „Lehrmeinung“ nicht mehr haltbar und auch nicht zutreffend.

 

Warum scheiden die mitsiedelnden Slawen als Namengeber aus?

Erste Zweifel hat bereits der Siedlungshistoriker Prof. Hans Walther 1960 in seiner gründlichen und ausführlichen Studie „Slawische Namen im Erzgebirge“ 1960  geäußert.1 An erster Stelle machte ihn stutzig und rief seine Bedenken hervor, dass ein so „hoher Prozentsatz der [...] slawischen Orts-, Flur- und Flußnamen des Erzgebirges“ neben den deutschen Namen vom 10. bis 12. Jahrhundert entstanden sein sollte. 

Als erklärenden Ausweg bot Hans Walther, dass bei „der bäuerlichen deutschen Besiedlung […] Slawen zu einem nicht geringen Prozentsatz beteiligt gewesen sein müssen, da sonst die Zahl erhaltener slawischer Namen […] kaum von den deutschen Neusiedlern hätte übernommen werden können.“2

Nun blieb aber bei diesem Erklärungsversuch für die relativ vielen genuin slawischen Hydronyme noch eine Reihe Fragen offen:

- Wieso sollten Slawen – im Unterschied zu der viel größeren Anzahl von Deutschen – beim Landesausbau im 11./12. Jh. so auffällig oft  Fließgewässer benannt haben?

- Waren vielleicht die slawischen Gewässernamen (Hydronyme) im Erzgebirge bei der Eingliederung des Territoriums ins ostfränkische Reich ab 929 n. Chr. schon vorhanden?

- Und gab es überhaupt Namen für slawische Siedlungen im Erzgebirge?

Die Antwort auf die letzte Frage ist heute eindeutig: Es gab im Erzgebirge und seinem Vorland k e i n e   slaw. Siedlungen und auch keine slaw. Siedlungsnamen. Es gab nur wenige Namen für vereinzelte Wohnstätten (Oikonyme). Das wird nachfolgend gleich beschrieben und erläutert. 

 

Was  lässt sich heute überhaupt zu Slawen im Erzgebirge sagen?

Es gibt zwei zuverlässige Quellen zur Frühzeit im Erzgebirge und seinem Vorland. Das sind die Boden- und die Sprachdenkmale. 

Bodendenkmale meinen hier nicht vereinzelte Bodenfunde, sondern logistische  Kommunikationsstrecken: die von den Slawen genutzten semitae Bohemicae antiquae. Diese Bezeichnung aus dem 12. Jh. macht klar, dass es sich um wirklich schon in der Frühzeit genutzte Wege übers Gebirge bis nach Böhmen und zurück handelte. Die in den Gebieten von der Ostsee bis nach Böhmen sesshaft gewordenen Slawen haben diese Altwege vorgefunden und genutzt, um durch Händler in den Genuss von benötigten Waren (z. B. Salz aus dem Raum Halle) zu kommen. 

Da slawische Händler spätestens ab 800 n. Chr. den Warenbedarf befriedigten und dazu die Altwege nutzten, ist es normal, dass sie auf Grund der Entfernungen zwischen den slawischen  Altsiedelgebieten nördlich und südlich vom heutigen Erzgebirge mehrere Tage unterwegs waren. Besonders beschwerlich und noch heute nachvollziehbar waren die Strecken durch den ansteigenden Gebirgswald. 

Es wundert daher nicht, dass sich genau an den Altwegen auch die ältesten slaw. Sprachdenkmale im Gebirgswald und seinem Vorland finden lassen: Es sind bisher unbeachtet gebliebene Namen für Einzelbesitz von Slawen. Es handelt sich dabei sehr wahrscheinlich um einige wenige Einzelniederlassungen mit Gehöft zur Selbstversorgung. Sie sind entstanden ab Ende des 8. Jhs. Die erkennbaren Abstände von 20 bis 25 km deuten an, dass diese vereinzelten Gehöfte wohl auch durch slawische Händler als Möglichkeit zu Rast, Verpflegung und Schutz für Mensch und Tier genutzt wurden. 

Alle diese slawischen Einzelniederlassungen liegen zwischen Zwickauer und Freiberger Mulde ausschließlich an Altwegen. Und alle geben sich zu erkennen durch die Namenstruktur3: Sie nennen a) einen Besitzer mit seinem slaw. Kurznamen. Und sie markieren b) dessen persönlichen Besitz durch ein Possessiv-Suffix -in oder -ov, wie Sobelin (Zöblitz), Lugov (Lugau), Rašov (Raschau), Vilkov (Wilkau), Zavidov (Sayda), Cĕtov (Zethau); vereinzelt auch Suffix -jь4 bei Oederan und Zschocken. In diese Reihe gehört auch das tschechische Komotau, Chomutov als ursprünglich ‚Besitz eines Chomut‘.5

 

Wieso aber slaw. Gewässernamen im Erzgebirge?

Nachdem sich einzelne Slawen jeweils mit ihrer Familie an den Altwegen niedergelassen hatten, haben sie nach und nach in ihrer Umgebung auch Bäche und zuweilen einzelne geographische Objekte benannt. Als dauerhafte Bewohner haben diese Familien die von ihnen geprägten Namen auch von Generation zu Generation benutzt. So erklärt sich sowohl eine gewisse Häufung von slaw. Hydronymen als auch ihre dauerhafte Bewahrung über Jahrhunderte jeweils im Umfeld der slawischen Einzelgehöfte bzw. Raststellen an den Altwegen. Anders formuliert: Die slaw. Gewässernamen finden sich sämtlich und noch heute leicht überprüfbar immer in der Nähe der ermittelten frühen slaw. Einzelniederlassungen. 

Dem durch die slawischen Reisenden ab spätestens 800 n. Chr. geweckten Bedarf an bescheidener Unterkunft auf den langen Wegstrecken durch den Gebirgswald entsprachen damals einzelne Slawen durch ihre Gründungen von einsamen Gehöften. Mit ihrer Öffnung für den damaligen Bedarf waren sie quasi die „Start-ups“ an den semitae im Mittelalter. 

 

Wann sind die slawischen Namen ins Deutsche gelangt?

Nicht erst im 12. Jh., wie immer wieder gern angenommen wird. Bereits im 10. Jahrhundert haben deutsche Notare vor allem aus dem Bistum Zeitz das 929 eroberte Neuland im Osten bereist und die slaw. Namen erfasst. Das lässt sich sprachwissenschaftlich an der bewahrten Lautgestalt von einzelnen Namen wie z. B. 1143 locus kameniz dictus und  Oederan beweisen.6 Auch Hydronyme wie Kameniza (Chemnitz-Fluss) und Lonkawitza (Lungwitz-Bach) sind  damals schon sofort in den deutschen Sprachschatz der Verwaltung übernommen und nicht mehr von slawischer Lautentwicklung7 beeinflusst worden.  

In der Zeit der deutschen Besiedlung von SW-Sachsen bis in die Kammlagen des Erzgebirges in den letzten Jahrzehnten des 12. Jhs. sind die vorhandenen slaw. Bachnamen von deutsch-herrschaftlicher Seite auf die Reihendörfer mit Waldhufenflur entlang der Bäche übertragen worden. Ebenso sind die Namen der einstigen slawischen Einzelniederlassungen an den Altwegen auf die in ihrer Nähe neu angelegten deutschen Bauerndörfer übergegangen. 

Die bereits seit Jahrhunderten vorhandenen Onyme wurden also weiter in neuer Funktion genutzt. Die Einzelgehöfte sind nach und nach in die neuen Orte einbezogen und auch weiter umbaut worden. Kleinere Funde im Boden als Nachweise sind gar nicht mehr denkbar, denn die Einzelgrundstücke sind dauerhaft bebaut und bewohnt geblieben.

 

DZ: 10.900   (21.10.2025)

 

1 Erschienen in Heidelberg in der fachwissenschaftlichen Zeitschrift „Beiträge zur Namenforschung“, Jg. 11 (1960), S. 29-77.

2 Ebenda, S. 35.

3 Es gibt einen slaw. Strukturtyp [PN + Possessiv-Suffix], der in den slaw. Altsiedelgebieten im 8. Jh. aufkam und das „neue“ Eigentum eines Siedlers anzeigte.

4 Ausführlich dazu vgl. Karlheinz Hengst, Zur Frühgeschichte von Chemnitz und zum Erzgebirge von 800 bis 1200 n. Chr. Chemnitz 2025, S. 22-42.

5 Vgl. diese Erklärung von Prof. Dr. Rudolf Šrámek in dem Lexikon „Deutsches Ortsnamenbuch“, Berlin/Boston 2012, S. 324 als ‚Chomuts Eigentum‘.

6 Auf die mögliche Erläuterung wird hier aus Platzgründen bewusst verzichtet.

7 Wäre das der Fall gewesen, würde Chemnitz heute eine Lautgestalt wie Kamenz in der Lausitz haben und die Lungwitz würde Luckwitz lauten.