Nachricht vom

Chemnitz

und seine Familiennamen

I. italienische Familiennamen

Auf den ersten Blick ist der Titel «europäische Kulturhauptstadt» für die alte, ehemals bedeutende Industriestadt Chemnitz (zu DDR-Zeiten in Karl-Marx-Stadt umbenannt) verwunderlich. Beim näheren Hinsehen ergeben sich allerdings so zahlreiche interessante historische und kulturelle Aspekte, dass ein genauerer Blick durchaus lohnt. Hier ein Aspekt, dem man in der Regel weniger Beachtung schenkt, der aber von nicht geringem sozio-kulturellen Interesse ist: die Familiennamen der Stadt Chemnitz. Grundsätzlich spiegeln Namen eine Gesellschaft wider, dabei sind historische Phasen von Bedeutung, vor allem auch anbetracht der Tatsache, dass Chemnitz mit heute knapp mit 250.000 Einwohnern nur noch „ein Schatten“ seiner Blütezeit ist: im Jahr 1932 zählte die Stadt über 360.000. Wenn man sich mit deren Namen beschäftigen möchte, stehen heute nur bedingt aussagekräftige Telefondaten zur Verfügung, für 1932 oder die Zeit vor dem Weltkrieg verfügt die Stadt aber über insgesamt nicht weniger als 85 vollständige Bewohnerverzeichnisse bzw. Adressbücher, die den Zeitraum von 1838/1839 bis 1943/1944 umfassen. Ein Blick in ein solches Adressbuch, und dann natürlich der Vergleich zwischen verschiedenen Jahrgängen, erlaubt eine Reihe von wichtigen Erkenntnissen. Ausgehend vom Chemnitzer Adreßbuch 1932 werden in loser Folge einige, eher zufällige, charakteristische Beispielnamen (Familiennamen) der Europäischen Kulturhauptstadt 2025 herausgegriffen.

Im europäischen Kontext sind „ausländische“ Namen vielleicht von besonderem Interesse, zeigen sie doch Wanderbewegungen und internationalen Austausch. Das lässt sich besonders leicht an französischen (meist wohl hugenottischen) und italienischen Namen nachvollziehen. Hier ein kurzer Blick auf eine Gruppe von „Ausländern“, die der Italiener. Das Thema wurde bisher für Deutschland nicht systematisch untersucht1. In der nützlichen Übersicht von Kathrin Dräger (2011) ist Ostdeutschland, in unserem Fall der Freistaat Sachsen, ein weißer Fleck: «In den neuen Bundesländern gibt es kaum Italiener» (336). Das ist natürlich zu relativieren, wenn man eine längere historische Epoche oder die Gegenwart ins Auge fasst. Hier sind die drei großen Handels- und Industriestädte Leipzig und Chemnitz und vor allem die Residenzstadt Dresden von nicht geringem Interesse.

Bei einer Durchsicht des Chemnitzer Adressbuches von 1932 fällt die ungewöhnlich hohe Zahl an italienischen Familiennamen (= FN) auf. Diese sind natürlich zu trennen von latinisierten deutschen Namen des Typs Alberti. Ernesti, Martini, Wilhelmi u.a. Keineswegs alle Personen tragen auch italienische Vornamen, das bedeutet: Es handelt sich überwiegend um sesshaft gewordene Einwanderer und damit um einen längeren historischen Prozess, der zu trennen ist von der starken Zuwanderung italienischer „Gastarbeiter“, vor allem aus Süditalien (was sich in den Namen widerspiegelt), in die damalige Bundesrepublik seit Anfang der 1950er Jahre. Letztlich handelt es sich um deutsche Familiennamen italienischen Ursprungs, vergleichbar etwa mit den deutschen Familiennamen polnischer Herkunft.2

Anhand der zur Verfügung stehenden und leicht konsultierbaren Chemnitzer Adressbücher3 ließen sich für jeden Namen bzw. Namenträger im Idealfall das Jahr des Zuzugs, meist auch die berufliche Tätigkeit, oft auch genealogische Zusammenhänge bestimmen. Adressbuch bedeutet, anders als moderne Telefonverzeichnisse, die präzise Angabe von Wohnort, Stand und Beruf. Die zentrale Frage nach den Gründen für diese starke Zuwanderung aus Italien ist ohne weitergehende Prüfung oder im Vergleich zu anderen Großstädten, hier natürlich Dresden und Leipzig, nur schwer zu beantworten. Neben der bereits alten Zuwanderung von Künstlern und Arbeitern aus Italien, Wanderbewegungen nach der italienischen Staatsgründung (1861) vor allem aus den norditalienischen Gebieten Österreich-Ungarns4 scheinen aktuelle Großbaustellen (Straßen, Schienen, auch etwa die Seilbahn zum Schloss Augustusburg, 1911 abgeschlossen) und vor allem modische italienische Bautechniken, hier insbesondere Terrazzo-Arbeiten „alla veneziana“5 ein wichtiges Motiv zu sein: Unter den rund 60 Personen/Familien mit italienischem FN sind zumindest 8 ausdrücklich als Terrazzo-Arbeiter genannt, weitere 8 Personen sind im Bau- und Kunstgewerbe  (Zement, Gips, Marmor…) tätig; besonders hier ist die Herkunft aus Nordostitalien (Friaul u.a.) wahrscheinlich. Doch ist das Spektrum der beruflichen Tätigkeiten weit gespannt. Das Thema dieses Beitrags ist Teil des allgemeinen Phänomens Migration oder „Auswanderung“, wo Italien eine wichtige Rolle spielt. Aus diesem Grund werden hier die Zahlen nach FB und dem DAFN eingefügt; die oft weit auseinandergehenden Frequenzen zeigen die Problematik derartiger Erhebungen, doch sind Trends eindeutig erkennbar. Die aktuellen (meist geringen) Zahlen italienischer Familien in Deutschland nach GG sind für unser Thema nur von mittelbarem Interesse.

Festzuhalten bleibt: Bei den 1932 registrierten Familien mit italienischem Namen ist zwischen aktuellen „Gastarbeitern“ (mit italienischem Vornamen) und Eingesessenen, also Deutschen, zu unterscheiden. Allerdings ist in vielen Fällen mit einer Anpassung der Vornamen an identische oder ähnlich klingende deutsche Namen zu rechnen.

Eine systematische Überprüfung in den Adressbüchern erlaubt oft eine genauere Klärung der „Familiengeschichte“, die auch über Portale wie Familysearch oder Ancestry abgesichert werden kann. Der hier insbesondere interessierende italienische Namenschatz entspricht pauschal nicht den aktuellen Hitlisten.

… Fortsetzung folgt …

Verweise:

1Zur Verbreitung italienischer Familien(namen) in der Welt vgl. Enzo Caffarelli (ed.), Nomi italiani nel mondo, Roma 2015 (= QuadRIOn 5). Leider wird Deutschland hier nicht erfasst.

2Vgl. Rymut, Kazimierz / Hoffmann, Johannes (Hgg.), Lexikon der Familiennamen polnischer Herkunft im Ruhrgebiet, 2 Bde., Krákow 2006/2010.

3SLUB: www.saxorum.de/adressbuecher. Schneller geht die Suche in den zahlreichen informatisierten Adressbüchern des Vereins für Computergenealogie (https://adressbuecher.geneology.net). Für Chemnitz sind die Verzeichnisse von 1847 (Bewilogua) und 1855 (Bonardy, Casiraghi, Rompano) erfasst.

4In Chemnitz sind italienische Namen erst ab 1847 registriert.

5 Von Interesse wäre eine monographische Untersuchung dieses Themenbereiches (Terrazzo, stuccolustro/Stuckmarmor u.a.) gerade im Hinblick auf die Herkunft der Arbeiter und Firmen. Einen ersten, nachhaltigen Eindruck vermittelt die Liste „Terrazzoarbeiter/Zufallsfunde“ unter https://wiki.genealogy.net. Hier werden nicht weniger als 173 Familienbetriebe aufgelistet, fast alle für den Zeitraum 1900 bis 1940 (Schwerpunkt 10er und 20er Jahre). Die überwiegende Mehrzahl dieser Firmen wird von Italienern (Venedig, Friaul) geführt.