Pressemitteilung 2021/211 vom

Seit Wochen harren Hunderte Migrant:innen an der Grenze zwischen Belarus und Polen aus und wollen Asyl in der Europäischen Union beantragen. Sie verbringen bei eiskalten Temperaturen die Nächte in Zeltlagern direkt am Grenzzaun. Inzwischen wurde der Grenzzaun bereits von mehreren hundert Flüchtenden durchbrochen. Über die aktuelle Situation Junior-Professorin Dr. Anna Artwińska, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin am Institut für Slavistik der Universität Leipzig:

Die gegenwärtigen Bilder von der polnisch-weißrussischen Grenze sind besorgniserregend. Scheinbar wird hier der Flüchtlingskonflikt zwischen der Europäischen Union und der weißrussischen Regierung auf dem Rücken Asyl suchender Menschen ausgetragen. Welche Rolle spielt die polnische Regierung in diesem Konflikt?

In ihrer eigenen Wahrnehmung: eine sehr positive. Der polnische Premierminister behauptet, durch die in den letzten Wochen ergriffenen Maßnahmen – wie der Ausnahmezustand im Grenzgebiet oder die Legitimierung von Push-Back-Verfahren – würde man nicht nur die Grenzen der Europäischen Union schützen, sondern auch die Sicherheit der polnischen Bürger:innen garantieren. In der Wahrnehmung der Opposition und auch meiner Meinung nach nutzt die Regierung den Konflikt mit Aljaksandr Lukaschenka aus, um ihre eigene fremdenfeindliche Politik zu rechtfertigen. Denn auch wenn nicht zu bestreiten ist, dass Polen wie auch Litauen und Lettland zum Spielplatz einer antieuropäischen Politik geworden sind, so darf nicht übersehen werden, dass auf diesem „Spielplatz“ mit dem Leben Asyl suchender Menschen gespielt wird. Die polnische Regierung verweigert Hilfe – die Wälder im Grenzgebiet verwandeln sich langsam zu einer Todeszone – und Informationen, indem es den Journalist:innen und Aktivist:innen den Zutritt zu dem Grenzgebiet verbietet. Zudem verlaufen Asylverfahren äußerst intransparent. Und das alles passiert mitten in Europa sowie in einem Land, dessen Bürger:innen selbst häufig im Laufe der Geschichte zur Flucht und Migration gezwungen waren und dessen Regierung sehr stolz auf die eigenen christlichen Wurzeln ist.

Wichtig ist aber, die Hierarchie der Probleme im Auge zu behalten. Bei diesem Konflikt geht es nicht primär um polnische Befindlichkeiten und auch nicht darum, Polen an den Pranger zu stellen und sich dadurch möglicherweise selbst reinwaschen zu wollen. Viel wichtiger ist, dass dieser Konflikt als eine gemeinsame, europäische Angelegenheit angesehen wird und dass man auf der Ebene der EU-Politik richtige Entscheidungen trifft. Es liegt auf der Hand, dass ohne Unterstützung der EU die Situation an der Grenze zwischen Belarus und Polen nicht geregelt wird.

Es gibt viele polnische Bürger:innen, die sich dem Schicksal der Flüchtenden annehmen. Wie wird diese Hilfe in Polen wahrgenommen in Anbetracht der erfolgreichen Abgrenzung der polnischen Regierung von Flüchtlingsvereinbarungen der Europäischen Union?

Die polnische Gesellschaft ist äußerst gespalten und geteilt. Seitdem die PiS-Regierung an der Macht ist, hat sich in Polen eine starke Protestkultur etabliert. Die regimekritischen Menschen gingen auf die Straßen, als die Regierung versucht hatte, eine umstrittene Justizreform durchzuführen, als man in Polen LGBT-freie Zonen etablieren wollte und als man das ohnehin schon restriktive Abtreibungsgesetz verschärft hat. Diese neue Protestkultur müsste wissenschaftlich untersucht werden, denn sie hat einen anderen Charakter als die Proteste aus der Zeit der Volksrepublik Polen. Auch jetzt, im Zusammenhang mit der Situation an der polnisch-belarussischen Grenze, gibt es sehr gut organisierte Gruppen von Aktivist:innen, die durch die Wälder gehen und die Menschen mit Essen, Kleidung und juristischer Unterstützung versorgen. Viele polnische Bürger:innen, die im Grenzgebiet wohnen, bieten ihre Hilfe an. Dieses empathische Engagement wird in den PiS-kritischen Medien mit Anerkennung und Wertschätzung dargestellt. Allerdings gehören längst nicht alle Polinnen und Polen der Protestkultur an. Leider ist es so, dass viele der PiS-Propaganda glauben und die Asyl suchenden Menschen als Problem betrachten. Ich würde sagen, dass die Polarisierung der Gesellschaft an sich nichts Besonderes ist – man denke nur daran, wie gespalten z. B. das heutige Frankreich ist –, es geht eher darum, dass die Situation in Polen so stark eskaliert ist, dass ein Dialog kaum mehr möglich ist. Da, wo eine Seite, die dem Hunger und der Kälte ausgesetzten Menschen sieht, sieht die andere Seite den unzivilisierten Anderen, der das Böse schlechthin verkörpert.

Worin liegen die Gründe für den Konflikt zwischen der gegenwärtigen polnischen Regierung und den von Ihnen beschriebenen Aktivist:innen?

Es handelt sich um Gründe fundamentaler Natur: In welcher Welt wollen wir leben, wie wollen wir uns als Gesellschaft definieren, was sind unsere Ziele und auf welchen Grundlagen wollen wir unsere Zukunft bauen. Als es 1989 zum politischen Umbruch kam, hat man zu schnell angenommen, dass die Demokratie als höchstes Gut in einer postsozialistischen Gesellschaft angesehen wird. Das ist leider nicht der Fall, die Jahre der PiS-Regierung haben das nun bestätigt. Wenn es konkret um die Situation an der Grenze zwischen Belarus und Polen geht, so sprechen leider die Regierung samt Anhänger:innen auf der einen und die PiS-kritischen Teile der Gesellschaft auf der anderen Seite eine völlig andere Sprache. Es ist zudem erstaunlich, wie sehr sich auch der Blick auf die historische Vergangenheit unterscheidet. Während sich die Einen permanent auf den polnischen Heroismus berufen und sich in der Tradition des patriotischen Kampfes für Freiheit und Unabhängigkeit verorten, weisen die Anderen eher auf die „unbequemen Wahrheiten“ hin: Auf den polnischen Antisemitismus beispielsweise. In einem Essay mit dem Titel „Die armen Polen blicken aufs Ghetto“ hat der Literaturhistoriker Jan Błoński bereits 1987 die polnische Mitschuld am Holocaust angesprochen. Im Jahr 2021 ist die Frage der Mitschuld und Mitverantwortung aktueller denn je – und es geht mir keinesfalls darum, die Singularität der Shoah in Frage zu stellen. Dennoch, auch wenn Lukaschenka für diesen Konflikt verantwortlich ist: Es sind polnische Soldaten, die die Menschen zurückdrängen. Wir sind es, die zuschauen.

Unabhängige Journalisten werden nicht ins Grenzgebiet gelassen. Was steckt dahinter? 

Es ist offensichtlich. Wissen bedeutet Macht. Die PiS-Regierung hat Angst, dass sich diese Macht nicht kontrollieren lassen könnte. Man möchte sich mit eventueller Kritik nicht auseinandersetzen müssen und schreckliche Bilder und eine entsprechende öffentliche Meinung riskieren. Man hat Angst davor, was die Journalist:innen alles ans Licht bringen könnten. Es ist viel einfacher, ihnen den Zutritt ins Grenzgebiet zu verbieten. In dieser Hinsicht handelt die PiS-Regierung wie jedes andere autoritäre Regime. Es ist traurig, aber völlig durchschaubar.

Betrachtet man die Rolle Polens mit der Solidarność-Bewegung Anfang der 1980er-Jahre im gesamten Prozess der Öffnung der Grenzen zwischen Ost und West, wie bewerten Sie die Errichtung von Grenzzäunen an der polnischen EU-Außengrenze?

Es ist bekannt, dass die Revolution die eigenen Kinder frisst. Die Grenzzäune sind in meinen Augen ein Armutszeugnis und eine völlige Umkehrung der Ideale der Solidarność-Bewegung. Die Folgen ihrer Errichtung sind verhängnisvoll und werden die polnische Gesellschaft noch lange beschäftigen. Es ist zudem nur die Frage der Zeit, dass das Motiv des Grenzzaunes in die Literatur eingeht und zum festen Bestandteil des negativen Gedächtnisses (Reinhart Koselleck) wird. Die Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk hat in den letzten Tagen ihre alte Erzählung über Mauern auf Facebook veröffentlicht. Sie wurde vor zwanzig Jahren als Erinnerung an den Berliner Mauerfall geschrieben. Damals hat man geglaubt, in Europa werden Mauern nicht mehr gebaut. Auch der Gedanke, dass Polen den durch die Solidarność-Bewegung eingeschlagenen Weg verlassen könnte, war unvorstellbar.

Wie ich aber schon zum Beginn gesagt habe: Es geht wirklich, vor allem darum, dass nicht noch mehr Menschen in den Wäldern sterben. Gefragt ist eine länderübergreifende Solidarität. Auch wenn nicht jedem Asyl gewährt werden kann: Die europäischen Werte lassen sich nicht mit Schlagstöcken und Tränengas verteidigen. Mit Trinkwasser und warmer Suppe dagegen schon.

Worin sehen Sie eine Möglichkeit der Konfliktlösung zwischen den einzelnen Parteien: Polens Regierung, Weißrussland, Europäische Union, polnische Aktivist:innen und nicht zu vergessen, die flüchtenden Menschen? 

Ich bin keine Politikerin, um eine Lösung zu formulieren. Als Person, die viel über die Gewaltgeschichten nachdenkt, muss ich leider auch sagen, dass mich die Geschichte der Menschheit nicht zu Optimismus bewegt. Dennoch glaube ich an die Kraft des Handelns. In dem Fall brauchen wir ein komplexes und koordiniertes Handeln. Es dürfen keine Flüge mehr mit Asyl suchenden Menschen nach Belarus fliegen. Den Menschen, die bereits in das zynische Spiel geraten sind, muss schnellstmöglich geholfen werden. Das könnte ein Beginn vom Ende sein.