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In der heutigen globalen Welt reicht es schon lange nicht mehr, den Blick nur auf Europa zu richten. Professor Benjamin Meisnitzer vom Institut für Romanistik untersucht in seinem Seminar französische Varietäten in und außerhalb Europas. Geschichte, Politik und Machtstrukturen spielen dabei ebenso eine Rolle wie sprachwissenschaftliche Analysen.

Fokus: Lehre. Romanistik, Donnerstag, 9:15 Uhr, Seminar „Frankophonie: Französisch außerhalb Frankreichs und französischbasierte Kreolsprachen“ im Modul 04-007-1605 bzw. 04-FRA-2606 – eine von etwa 800 philologischen Lehrveranstaltungen im Wintersemester 2021/22.

Dass sich britisches und US-amerikanisches Englisch unterscheiden, weiß vermutlich jeder. Dank Netflix und Co kann man den Kontrast anhand unzähliger Serien selbst recht einfach heraushören. Anders verhält es sich mit Französisch, Spanisch oder Portugiesisch: Wer eine dieser Sprachen in der Schule lernt, bekommt in der Regel die europäische Varietät beigebracht. Viel Platz für außereuropäische Perspektiven bleibt im Lehrplan meist nicht.

Benjamin Meisnitzer, Professor für Romanische Sprachwissenschaft mit den Schwerpunkten Hispanistik und Lusitanistik am Institut für Romanistik, konzentriert sich in seinem Seminar jedoch genau darauf. Gemeinsam mit 28 Studierenden aus den Bachelor-, Master- und Lehramtsstudiengängen mit Schwerpunkt Französistik, untersucht er wesentliche Merkmale verschiedener Varietäten und Kreolsprachen. Das Seminar hat er entwickelt, da von Seiten der Studierenden der Wunsch stark war, nicht nur die europäische Standardvarietät zu kennen. „Man braucht Neugierde auf die Welt“, sagt Meisnitzer, „Sprache ist immer auch Vielfalt, Sprache ist lebendig.“

Die Seminargruppe beschäftigt sich mit Varietäten des Französischen in Europa, Asien, Afrika und Nordamerika. „In der Schule und Universität habe ich immer nur Französisch aus Belgien und Frankreich gelernt“, erzählt Anna Van de Weyer, Austauschstudierende von der KU Leuven in Belgien, die am Campus Brüssel Angewandte Linguistik studiert. „Ich wusste gar nicht, dass es so viele Varietäten gibt.“ Wichtig sei auch, so Meisnitzer, über jede Region einen kurzen geschichtlichen Überblick zu bekommen. Denn die Beziehungen zwischen Frankreich und den Ländern, in denen das Französische heute noch Amtssprache ist, sind vielschichtig und historisch gewachsen.

Obwohl sich das Seminar auf linguistische Analyse und die entsprechenden Untersuchungsmethoden konzentriert, wird deutlich, dass Sprachvarietäten nicht nur in der Linguistik eine Rolle spielen. „Sprache und Identität sind eng miteinander verwoben“, erläutert Professor Meisnitzer. So zeigt er in seiner Lehrveranstaltung auch Schnittstellen zu Literaturwissenschaft und Kulturstudien auf: Texte aus ehemaligen französischen Kolonien befassen sich häufig mit dem Thema Identitätsfindung, greifen auf Mythen der indigenen Bevölkerung zurück und spiegeln die Lebensrealität der Verfasser:innen wider.

Damit die Studierenden ein besseres Gespür für die verschiedenen Varietäten bekommen, nutzt Benjamin Meisnitzer gerne audiovisuelles Material und Hörproben. Anhand kurzer Filme finden die Studierenden in Partnerarbeit heraus, welche Merkmale für eine Varietät besonders zentral sind. Im Quebecer Französisch etwa werden Anglizismen, die in Frankreich gebräuchlich sind, zum Teil bewusst französisiert. Statt das französische „week-end“ für Wochenende zu nutzen, sagt man in Québec „fin de semaine“ (wörtlich: „Ende der Woche“) – ein Versuch, sich von der stark anglophon geprägten Umgebung abzugrenzen.

„Allerdings müssen die Studierenden die Sprecherinnen- und Sprecherhaltung kritisch hinterfragen“, hebt Benjamin Meisnitzer hervor. Denn: Auch die Situation, in der eine Sprache verwendet wird, spielt in der Analyse eine Bedeutung. „In einem informellen Kontext reden die Leute meist anders miteinander“, schildert Meisnitzer. „Die Alltagssprache wird sich in der Regel von der Sprache unterscheiden, die Politiker:innen oder Nachrichtensprecher:innen nutzen.“ So können die Studierenden anhand von authentischem Gesprächsmaterial üben, soziolinguistische Aspekte zu untersuchen.

Besonders viel Freude macht Benjamin Meisnitzer, mitzuerleben, mit wie viel Engagement und Interesse die Studierenden die verschiedenen Varietäten erforschen. „Es ist toll zu sehen, wie die Studierenden eigene Ideen entwickeln und daraus dann Hausarbeiten entstehen“, zeigt sich der Dozent begeistert. Das Seminar bietet den Studierenden die Möglichkeit, anhand kurzer Vorträge auszuprobieren, ob sich ein Thema für eine Hausarbeit eignet. In einem Exposé sammeln und strukturieren sie ihre Ideen – eine nützliche Vorarbeit, ehe es ans eigentliche Schreiben geht.

„Mir ist wichtig, dass die Studierenden auch voneinander lernen und sich gegenseitig unterstützen können“, sagt Meisnitzer. In seinem Seminar treffen Studierende aus drei unterschiedlichen Studiengängen aufeinander – eine Herausforderung, aber auch eine große Chance, findet er. In Partner- und Gruppenarbeiten diskutieren die Studierenden aktuelle Forschungsfragen ebenso wie didaktische Aspekte, denn Didaktik, so betont Professor Meisnitzer, sei nicht nur für künftige Lehrerinnen und Lehrer relevant.

Auch bietet das Seminar Gelegenheit, sich wissenschaftlich mit Kreolsprachen zu beschäftigen, denn hierzu gibt es noch immer wenig Literatur. „Eine Kreolsprache entsteht, wenn zwei typologisch sehr unterschiedliche Sprachen aufeinandertreffen, also beispielsweise Französisch und eine afrikanische Sprache, und die Verständigung zunächst auf wenige kommunikative Handlungen beschränkt ist. Es entsteht erst eine stark vereinfachte Mischsprache, die sogenannte Pidginsprache“, erklärt Professor Meisnitzer. „Wenn diese strukturell vereinfachte Sprache zur L1, also zur Erstsprache, einer zweiten Generation wird und sich dafür entsprechende sprachliche Strukturen herausbilden, entsteht eine Kreolsprache.“ In Frankreichs ehemaligen Kolonien, etwa in der Karibik, heißt das konkret, dass sich derartige Kreolsprachen im Kontext der Sklaverei gebildet haben. Daher müsse man, so Meisnitzer, auch heute noch das Verhältnis vom wirtschaftlich dominanten Frankreich zu weiteren französischsprachigen Ländern stets mitdenken.

Im Seminar hat Benjamin Meisnitzer den Studierenden verschiedene Forschungsperspektiven aufgezeigt, immer abgestimmt auf den jeweiligen Studienabschluss. „Wir haben gemeinsam geübt, wie man mit Korpora und Daten, etwa aus Befragungen, arbeitet“, schildert Meisnitzer. Für die bevorstehenden Projektarbeiten sind die Studierenden in ihrer Themenwahl recht frei, sodass er sich auf vielfältige Ideen freuen kann. Die Neugierde auf die Welt hat er seinen Studierenden bestimmt vermitteln können.