Andreas Bieberstedt (Universität Rostock)
Mecklenburgisches Hochdeutsch, Landeshochdeutsch, Missingsch: Struktur und Dynamik
Im Rahmen der Vortragsreihe „Sprachwissenschaftliche Vorträge am Institut für Germanistik in Leipzig“ (SPIGL) werden Projekte und aktuelle Forschungsfragen von Sprachwissenschaftler:innen aus dem Institut für Germanistik und von Gästen vorgestellt.
Der Vortrag ist Teil der Vortragsreihe "Sprachwissenschaftliche Vorträge am Institut für Germanistik (SPIGL)" in Leipzig.
Professor Andreas Bieberstedt forscht und lehrt an der Universität Rostock zur niederdeutschen Sprache und Literatur – von ihren mittelalterlichen Wurzeln bis zu ihren heutigen Erscheinungsformen. Sein besonderes Interesse gilt der mittelniederdeutschen Literatur des 14. bis 16. Jahrhunderts, den sprachlichen Entwicklungen in Norddeutschland sowie dem aktuellen Sprachwandel im niederdeutsch-hochdeutschen Kontakt. Weitere Schwerpunkte seiner Arbeit sind die Digitalisierung des „Mecklenburgischen Wörterbuchs“, Fragen der Sprachstandardisierung sowie die Vermittlung des Niederdeutschen in Schule und Hochschule. Seit 2023 leitet er gemeinsam mit Prof. Dr. Birte Arendt das Lehrnetzwerk „Niederdeutsch vermitteln“.
Abstract
„Es ist lächerlich und verdient eine scharfe Rüge, daß die mehrsten meiner Landsleute und Landsmänninnen sich auf ihr hochdeutsches Sprechen recht viel einbilden, und ei-nen entsezlichen Jargon herauswürgen, wie der Kenner leicht bemerken wird, wenn er nur in vermischten Gesellschaften ein Stündgen den stummen Zuhörer spielt. Da hört man Plattdeutsch, Hochdeutsch, Provinzialismen, Idiotismen, Platt mit hochdeutschen Endungen und umgekehrt, durcheinander, und das oft von Personen, die doch über die Sprache anderer den Stab brechen. [...] Diese Sprache nun kann ich nicht anders nennen, als Mecklenburgisch Hochdeutsch.” (Anonymus 1789: Über das mecklenburgsche Hochdeutsch. Teil 1. In: Monatsschriften von und für Mecklenburg. Jahrgang 2 [1789], S. 952)
Das obige Zitat steht in einer ganzen Reihe sprachpädagogischer Schriften zu den kommunikativen Verhältnissen in Norddeutschland, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in zunehmender Zahl publiziert werden. Das hier kritisierte „Mecklenburgisch Hochdeutsch“ lässt sich als Ausprägung einer hochdeutschen regionalen Umgangssprache, d. h. eines Regiolekts, mit mehr oder weniger starken niederdeutschen Interferenzen im lautlichen, morphologischen und lexikalischen Bereich beschreiben. Einen Eindruck vom sprachlichen Charakter dieser mecklenburgischen Umgangssprache, für die sich in den zeitgenössischen Quellen so unterschiedliche wie schwer operationalisierbare Begriffe wie Missingsch, Landeshochdeutsch oder meßingsche Mecklenburger Sprache finden, bieten literarische Texte, wo diese Sprachformen häufig in karikierender Absicht eingesetzt wird:
„Süh mal einer mich an, Andreeßing!“ säd min Möhme un twinkelt’ mit de Ogen [sc. ‚sagte meine Tante und zwinkerte mit den Augen‘; niederdeutsche Erzählsprache – A.B.]. „Büst du mich auch da, Kinting? Ungebeten Gästen hören mich eigentlich, ich will nich sagen wo. Na, dat is mich man schön, daß du auch da wärest. Hättest du mich auch die Beine gut an die Matte baußen abgepeddt [sc. ‚abgetreten‘, aus niederdeutsch ‚pedden‘ – A.B.]? Du hättest mich immer so viel Müll an deine Sohlen, Kind, gänzlich abgesehen von Pick und Teer; ich weiß nich, wo du mich das man immer herbringen tätest. Da kuck mich mal Euchaching an.“ (John Brinckman 1855: Kasper Ohm un ick)
Zu denken ist dieser Regiolekt als ein Spektrum hochdeutscher Sprechlagen auf niederdeutschem Substrat, dem im Sprachalltag Mecklenburgs bis in das 20. Jahrhundert hinein eine signifikante Bedeutung zugekommen sein muss, insbesondere im städtischen Raum. Allerdings ist er bislang nur unzureichend erschlossen, und zwar sowohl hinsichtlich seiner Struktur als auch in Hinsicht auf seine Variation und Verwendung.
Der Vortrag nimmt diese regionale Umgangssprache Mecklenburgs in den Blick und verfolgt dabei zwei Ziele. Er beschreibt erstens ausgewählte Merkmale, Aufbau und Variation des mecklenburgischen Regiolekts des 19. Jahrhunderts und ordnet ihn in das zeitgenössische Varietätenspektrum ein. Hierbei wird neben einer strukturellen Beschreibung auch eine diatopische, diastratische und diachrone Perspektivierung vorgenommen; diatopisch, indem auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu anderen regionalen Umgangssprachen im norddeutschen Sprachraum hingewiesen wird, diastratisch, indem Fragen nach schichtenspezifischen Verwendungsweisen und Zuordnungen erörtert werden, sowie diachron, indem die Fortentwicklung der mecklenburgischen Umgangssprache im 20. und 21. Jahrhundert zumindest ansatzweise skizziert wird. Für letzteres wird auf Daten aus dem Norddeutschen Sprachatlas (Band 1, 2015) sowie der Forschungsplattform Regionalsprache.de (RE-DE) zurückgegriffen.
Zweitens erörtert der Vortrag methodische Aspekte. Diskutiert werden vor allem die Problematik der Rekonstruktion historischer Mündlichkeit und der Verwendung literarischer Quellen als historische Sprachzeugnisse sowie der Quellenwert sprachpädagogischer und schulpraktischer Schriften.
Literatur:
Bieberstedt, Andreas (2024): „Mit Rücksicht auf die plattdeutsche Mundart.“ Die Schulgrammatik von Friedrich Wigger (1859) und die regionale Umgangssprache Mecklenburgs zur Mitte des 19. Jahrhunderts. In: Germanistische Linguistik 55/2 (2024), S. 259–310.
Ehlers, Klaas-Hinrich (2019): Mecklenburgisch-Vorpommersch, Mittelpommersch, Brandenburgisch. In: Herrgen, Joachim/Schmidt, Jürgen-Erich (Hrsg.): Sprache und Raum. Ein internationales Handbuch der Sprachvariation. Band 4. Berlin/Boston, S. 590–615.
Elmentaler, Michael/Rosenberg, Peter (2015): Norddeutscher Sprachatlas. Band 1: Regiolektale Sprachlagen. Unter Mitarbeit von Liv Andresen, Klaas-Hinrich Ehlers, Kristin Eichhorn, Robert Langhanke, Hannah Reuter, Claudia Scharioth und Viola Wilcken. Hildesheim u. a.
Wilcken, Viola (2015): Historische Umgangssprachen zwischen Sprachwirklichkeit und literarischer Gestaltung. Formen, Funktionen und Entwicklungslinien des ‚Missingsch‘. Hildesheim u. a.
Alle Interessierten sind herzlich eingeladen.
- Der Eintritt ist frei.
- Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.
- Alternativ besteht die Möglichkeit, die Veranstaltung online zu verfolgen. Den Link zum Livestream finden Sie etwa 30 Minuten vor Beginn auf der Webseite der Veranstaltung
Autor: Dr. Diana Walther