Nachricht vom

Henriette Richter hat in Leipzig Anglistik studiert und im Mai 2023 ihre Bachelorarbeit zum Thema „Disability in William Shakespeare’s Richard III“ eingereicht. Betreut wurde die Arbeit von Prof. Dr. Ralf Haekel, Professor für Englische Literaturwissenschaft am Institut für Anglistik. Mittlerweile studiert Henriette Richter im Masterstudiengang Global British Studies.

Lehrveranstaltungen während ihres Erasmus-Aufenthalts in Großbritannien haben Henriette Richter dazu inspiriert, moderne Theorieansätze und Methoden mit literarischen Texten der Frühen Neuzeit zu verbinden. Was genau sie in ihrer Abschlussarbeit untersucht hat und zu welchen Ergebnissen sie gelangt ist, verrät Henriette Richter im Interview.

 

Wenn Sie Freund:innen oder Familie das Thema Ihrer Arbeit in drei Sätzen erklären müssten, was würden Sie sagen?

William Shakespeares Theaterstück Richard III hat nicht nur großen Einfluss auf unser Bild dieser historischen Persönlichkeit, sondern trägt durch die enge Verknüpfung von physischer Behinderung und unmoralischem Verhalten bis heute dazu bei, wie behinderte Personen in Literatur und Film dargestellt und infolgedessen stigmatisiert werden. Da sich ein modernes Verständnis von Behinderungen jedoch erst durch die Aufklärung und Industrialisierung entwickelte, werden die Darstellungen behinderter Figuren in älteren Werken nur selten untersucht. In meiner Bachelorarbeit möchte ich zeigen, dass Theorien der Disability Studies dennoch auch auf ältere Texte produktiv angewendet werden können.

Wie sind Sie auf dieses Thema „gekommen“, also: wie haben Sie dieses Thema gefunden und warum wollten Sie es bearbeiten?

Während meines Erasmus-Studiums an der University of Leeds habe ich ein Modul zum Thema “ExtraOrdinary Bodies: Physical Disability in Contemporary Literature and Film” belegt, welches ich sehr interessant fand, weil ich davor noch nie von Disability Studies gehört hatte. Da ich parallel dazu die Module “Renaissance Literature” und “Shakespeare” belegte, fiel mir auf, dass wir in den dazugehörigen Lehrveranstaltungen nur ein einziges Mal auf die Darstellung von Behinderungen in den behandelten Werken eingegangen sind. Daher wollte ich in meiner Bachelorarbeit versuchen, die Themenblöcke Disability Studies und Frühe Neuzeit zu verbinden.

Was wurde mit welchen Methoden untersucht?

In meiner Bachelorarbeit habe ich ein close reading von William Shakespeares Richard III aus einer Disability Studies Perspektive durchgeführt. Da sich die Art und Weise, wie wir Behinderungen sehen, stetig verändert und beispielsweise religiöse, medizinische oder soziokulturelle Perspektiven in unterschiedlichen historischen Phasen überwiegen, habe ich zunächst versucht, einen Überblick über frühneuzeitliche Verständnisse von Behinderung zu geben. Um zu zeigen, wie umfangreich Shakespeares Richard III vom Diskurs um Behinderungen beeinflusst wurde (und diesen weiterhin beeinflusst), habe ich neben der Darstellung von Richard III als Beispiel einer behinderten literarischen Figur auch den Handlungsaufbau, die sprachliche Ebene, sowie verschiedene Theaterproduktionen und Filmadaptionen analysiert. Dabei habe ich beispielsweise auch Richards rhetorische Fähigkeiten untersucht, um die Figur nicht ausschließlich auf ihre Behinderung zu reduzieren. 

Warum hat das Thema gesellschaftliche Relevanz? Oder an welcher Stelle, für welchen Bereich und welche Personengruppen genau?

Häufig werden Behinderungen in Literatur und Film übersehen oder ausschließlich metaphorisch interpretiert, was den realen Erfahrungen behinderter Personen nicht gerecht wird. Die oft stereotype Darstellung von Behinderungen in fiktiven Werken kann unter anderem die Stigmatisierung von behinderten Personen weiter vorantreiben. In Richard III wird zum Beispiel die physische Behinderung des Protagonisten unmittelbar mit seinen verwerflichen Charaktereigenschaften in Zusammenhang gebracht. Diese gefährliche Fehldarstellung wurde nicht nur in der Berichterstattung über den Fund von Richard IIIs Skelett in Leicester (2012) deutlich, sondern taucht als sogenannter „disabled villain“-Trope auch in vielen anderen Büchern und Filmen auf (z. B. Captain Hook in Peter Pan). Weiterhin wird bis heute rege diskutiert, ob nicht-behinderte und behinderte Schauspieler:innen gleichermaßen die Figur Richard III spielen dürfen. 2022 übernahm der erste behinderte Darsteller, Arthur Hughes, die Rolle in einer Produktion der Royal Shakespeare Company; hingegen kam es kürzlich zu Kritik am Globe Theatre, weil die nicht-behinderte Schauspielerin Michelle Terry die Rolle im Sommer 2024 übernehmen wird. Ähnlich zum ‚Blackfacing‘ ist auch das sogenannte ‚Cripping Up‘ nicht-behinderter Schauspieler:innen problematisch. Diese Diskussionen zeigen daher, dass Shakespeares Richard III – immerhin ein mittlerweile über 400 Jahre altes Theaterstück – noch immer zeitgenössische und gesellschaftlich relevante Fragen aufwirft.

Wenn Sie die Arbeit heute noch einmal schreiben müssten, was würden Sie anders machen? Würden Sie das gleiche Thema wieder wählen?

Ursprünglich wollte ich mich mit einem frühneuzeitlichen Text beschäftigen, in dem Behinderung nicht ganz so offensichtlich thematisiert wird, wie in Richard III. Allerdings stellte sich selbst die Analyse von Richard III als anspruchsvoller und rechercheintensiver heraus als zunächst gedacht, da gleich mehrere verschiedene historische Verständnisse von Behinderung zusammenkommen: Es handelt sich schließlich um ein Historiendrama, welches im mittelalterlichen England spielt, in der frühen Neuzeit verfasst wurde, und bis in die Gegenwart aufgeführt wird und sowohl Literatur als auch Film weiterhin beeinflusst. Daher war es eine gute Entscheidung, einen Text zu wählen, zu dem vergleichsweise viel Sekundärliteratur existiert, weshalb ich mich wieder für Richard III entscheiden würde.

Was hat Sie während des Arbeits-/Schreibprozesses (positiv oder negativ) überrascht?

Durch Portraits hat sicherlich jeder ein Bild von Richard III vor Augen und spätestens seit der Entdeckung seines Skeletts 2012 in Leicester scheint bestätigt, dass der historische Richard III Skoliose hatte. In William Shakespeares Theaterstück findet man allerdings keine so eindeutige Beschreibung von Richards körperlicher Behinderung. Es wird beispielsweise ein „Buckel“ und verkürzter Arm erwähnt, was der hochgestellten Schulter in historischen Portraits nahekommt. Er wird aber zusätzlich mit mehreren unterschiedlichen Tieren (z. B. Kröten und Spinnen) verglichen. Das lässt sich kaum alles gleichzeitig in einer einzigen Produktion umsetzen. Daher war es für mich besonders interessant zu sehen, welchen Fokus die jeweiligen Theaterproduktionen und Filmadaptionen gewählt haben und wie sich diese Darstellungen teils stark von Portraits des historischen Richard III unterscheiden.

Können Sie sich noch an den Tag erinnern, an dem Sie Ihre Arbeit abgegeben haben? Wie haben Sie sich dabei gefühlt? (Wie) Haben Sie die Abgabe gefeiert?

Da ich sehr lange zum Thema recherchiert und dadurch erst relativ spät mit dem Schreiben begonnen hatte, war ich sehr erleichtert, es überhaupt vor Abgabefrist geschafft zu haben. Danach habe ich auch erst einmal eine Woche Urlaub gebraucht. Am Tag der Abgabe habe ich also meinen Koffer gepackt und bin am nächsten Tag nach England gereist, wo ich unter anderem das King Richard III Visitor Centre in Leicester besucht habe und ins Globe Theatre gegangen bin.

Wird Sie das Thema Ihrer Arbeit auch weiterhin (beruflich oder in einem Anschlussstudium) beschäftigen? Wenn ja, auf welche Weise?

Ich habe mittlerweile den Masterstudiengang Global British Studies hier in Leipzig begonnen und im ersten Semester zum Beispiel das Seminar “Narrating Autism“ belegt. In den literatur- und kulturwissenschaftlichen Modulen wird es mir also weiterhin helfen, ein größeres Bewusstsein dafür entwickelt zu haben, wie behinderte Personen in Literatur und Film repräsentiert werden, und dafür, dass Konzepte wie Behinderung (aber z.B. auch Geschlecht) kulturell und historisch abhängig sind.

Wenn Sie anderen Studierenden, die gerade ihre Abschlussarbeit vorbereiten oder schreiben, einen Tipp geben könnten, welcher wäre das?

Da ich stark unterschätzt hatte, wie lange der eigentliche Schreibprozess dauert, würde ich anderen Studierenden raten, rechtzeitig anzufangen und im Zweifelsfall die Recherchephase ein wenig einzukürzen, um genug Zeit für das Schreiben (und Korrekturlesen) zu haben.

 

Das sagt der Betreuer:

“Henriette Richter hat mit ihrer BA-Arbeit Disability in William Shakespeare’s Richard III eine ausgesprochen anspruchsvolle, klar durchdachte und sehr kluge Arbeit vorgelegt. Die Arbeit ist hervorragend recherchiert und stellt die Forschung zum Thema in einer Art und Weise dar, die weit über dem Durchschnitt einer Bachelor-Arbeit liegt. Die Disability Studies sind ein sich immer stärker etablierendes Feld in den Geisteswissenschaften. Eine Kernfrage, die die Verfasserin in der Arbeit untersucht, betrifft die Anwendbarkeit dieser Theorie auf ein Werk von William Shakespeare. Ist es ein Anachronismus, den Begriff der Behinderung bzw. der Disability, der sich erst in Bezug auf die medizinischen Diskurse der Aufklärung klar konturiert, auf einen frühneuzeitlichen Text wie das Historiendrama Richard III anwenden? Der Arbeit gelingt es, diese Frage auf eine sehr differenzierte Art und Weise zu beantworten: Henriette Richter zeigt, dass die Disability Studies eine komplexe und tiefgründige Interpretation des Dramas ermöglichen, auch wenn es im ausgehenden 16. Jahrhundert noch keinen modernen Begriff von Behinderung gibt. Sie analysiert nicht nur die thematisierte Deformität Richards, sondern auch und vor allem wie Sprache und Performanz im Kontext von frühneuzeitlicher Wissenschaft, Religion und Kultur die Wahrnehmung von Behinderung konstruieren. Das gelingt der Verfasserin tatsächlich absolut vorbildlich. Henriette Richter hat mit Disability in William Shakespeare’s Richard III eine hervorragende Arbeit geschrieben.”

 

  • Jedes Jahr werden an der Philologischen Fakultät mehr als 500 Abschlussarbeiten geschrieben. Ab Wintersemester 2023/24 stellen wir einige davon im Detail vor.