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Anaïs Leucht hat in Leipzig Anglistik und Moderne Keltische Sprachen studiert und im November 2024 ihre Bachelorarbeit zu „The cultural significance of margins in medieval manuscripts: Margins as a site of resistance in the St Gall Priscian“ abgegeben. Betreut wurde die Arbeit von Dr. David Nisters, Lehrkraft für besondere Aufgaben im Bereich Kulturstudien am Institut für Anglistik. Die Zweitbetreuung übernahm Dr. Ariane de Waal. Ab Herbst wird Anaïs Leucht in Antwerpen ein Masterstudium Digital Text Analysis aufnehmen.

Anaïs Leucht interessiert sich für Machtstrukturen, ein Thema, das im Mittelalter ebenso viel Relevanz hatte wie heute. Ihre Bachelorarbeit versteht sie als kleinen Beitrag zu diesem weitreichenden Diskurs. Dabei konzentriert sie sich auf sogenannte Marginalien – Randbemerkungen in mittelalterlichen Manuskripten – in einer altirischen Handschrift, dem St. Galler Priscian. Was genau Anaïs Leucht in ihrer Abschlussarbeit untersucht hat und zu welchen Ergebnissen sie gekommen ist, verrät sie im Interview.

Wenn Sie Freund:innen oder Familie das Thema Ihrer Arbeit in drei Sätzen erklären müssten, was würden Sie sagen?

Stell dir vor, du bist ein Mönch im Mittelalter, einer, der den ganzen Tag Handschriften abschreibt. Manchmal schreibst du etwas in den Text, das dort nicht hingehört, einen Witz, eine Beschwerde, eine Korrektur und so weiter. Unterbindest du damit nicht die Hegemonialmacht des Textes? Um genau diese Machtstruktur geht es in meiner Arbeit. 

Wie sind Sie auf dieses Thema „gekommen“, also: wie haben Sie dieses Thema gefunden und warum wollten Sie es bearbeiten? 

Ich habe bei Herrn Dr. Nisters bereits im Rahmen eines Seminars eine Hausarbeit zum Thema Marginalien geschrieben. Dabei ist mir aufgefallen, wie viel Spaß mir dieses Thema macht. Ich hätte an der Hausarbeit gerne noch ewig weiter geschrieben, und so war schnell klar, dass es auch das richtige Thema für eine Abschlussarbeit ist.

Warum hat das Thema gesellschaftliche Relevanz? 

Es geht in meiner Arbeit im weitesten Sinne, aber auch im konkretesten Sinne, um Marginalisierung. Das ist ein Thema, das mich mein ganzes Studium hindurch begleitet hat. Ich habe als Wahlfach moderne keltische Sprachen studiert, und habe mich in diesem Zusammenhang viel mit Minderheitensprachen beschäftigt. Das findet sich auch in meiner Arbeit wieder: Altirisch als marginalisierte Sprache im zentralisierten Latein des Codex und der Buchproduktion. Aber es geht auch um mehr als die Marginalisierung von Sprache, auch „aufmüpfige“ Meinungen wie Beschwerden oder gar Korrekturen des Haupttextes werden an den Rand gedrängt. In meinem letzten Kapitel geht es auch um das moderne Erbe von mittelalterlichen Marginalien, das habe ich in Kommentarspalten im Internet wiedergefunden – jeder kann sich ein Stückchen Macht aus dem Hegemonialgefüge des Haupttextes herausbrechen. 

Welche Unterstützung hat der Betreuer leisten können? Was hat das Betreuungsverhältnis gekennzeichnet?

Herr Dr. Nisters war eine tolle Unterstützung während des Schreibprozesses. Ich habe ihm immer wieder einzelne Abschnitte der Arbeit gezeigt, und er konnte mir viel wertvolles Feedback dazu geben, und mich bremsen, wenn ich etwas zu übereifrig wurde. Ich glaube, er hat sich auch gefreut, eine Arbeit über mittelalterliche Handschriften betreuen zu können, das ist, glaube ich, kein wahnsinnig beliebtes oder überhaupt bekanntes Thema bei Studierenden. Es war schön, die Begeisterung für das Thema mit ihm teilen zu können.

Wenn Sie die Arbeit heute noch einmal schreiben müssten, was würden Sie anders machen? Würden Sie das gleiche Thema wieder wählen?

Ich würde auf jeden Fall wieder das gleiche Thema wählen! Tatsächlich denke ich schon darüber nach, wie ich ein ähnliches Thema in meiner Masterarbeit behandeln kann. Auch den Arbeitsprozess würde ich genau so wieder machen, die Arbeit Stück für Stück schreiben, das ist ganz natürlich vor sich hingeflossen. Allerdings hätte ich die Arbeit vielleicht ein bisschen später anmelden sollen, damit ich nicht gleichzeitig noch zwei Hausarbeiten schreiben müsste. Aber auch das hat irgendwie funktioniert. 

An welchem Ort konnten Sie am besten schreiben/nachdenken? 

Ich habe am liebsten in der Albertina geschrieben, vor allem direkt um 8 Uhr, als noch fast niemand da war. Die Atmosphäre dort ist einfach unübertrefflich, man fühlt sich in so einem schönen Umfeld direkt produktiver. Aber auch zu Hause an meinem Schreibtisch sind einige Ideen und zahllose Mindmaps und Schattendokumente entstanden.

Wird Sie das Thema Ihrer Arbeit auch weiterhin (beruflich oder in einem Anschlussstudium) beschäftigen? Wenn ja, auf welche Weise?

Ich hatte das große Glück, meine Arbeit im Sommer bei einer Konferenz vorstellen zu dürfen, da arbeite ich zurzeit noch an dem conference paper. Ansonsten träume ich schon von meiner Masterarbeit (und vielleicht einem PhD?), die sich gerne auch mit einem ähnlichen Thema beschäftigen darf. Es gibt zu dem Thema noch so viel zu lernen und zu sagen, ich glaube nicht, dass ich schon damit abschließen kann. Mein Masterstudium ist Digital Text Analysis in Antwerpen, da werde ich auch noch ganz viele neue Fähigkeiten lernen, was die Digitalisierung von Manuskripten und auch die Marginalisierung im Internet angeht. So werde ich hoffentlich noch einen ganz neuen Blickwinkel auf das Thema gewinnen.

Wenn Sie anderen Studierenden, die gerade ihre Abschlussarbeit vorbereiten oder schreiben, einen Tipp geben könnten, welcher wäre das?

Schreibt die Arbeit wirklich Stück für Stück. Ich habe immer das Kapitel als nächstes geschrieben, das sich am einfachsten angefühlt hat. Bis ich damit fertig war, hatte sich dann schon etwas Neues aufgetan, worüber ich als nächstes schreiben wollte. So eine Abschlussarbeit wirkt am Anfang wie ein riesiger Berg, aber wenn man jeden Tag ein paar kleine Schritte macht (und wenn es nur ein paar Sätze sind, die nicht einmal in der fertigen Arbeit landen!), dann ist der Berg schneller erklommen, als man es sich am Anfang vorstellen kann. 

 

Das sagt der Betreuer:

In ihrer Arbeit ist es Anaïs Leucht auf beeindruckende Weise gelungen, die Analyse des materiellen Textes mit der Theoriebildung der Kulturstudien in Dialog zu bringen, indem sie die Handschriftenkultur des (frühen) Mittelalters in den Vordergrund gerückt hat. Dass mittelalterliche Textpraktiken ein sinnvoller Forschungsgegenstand der Kulturstudien sein können, spiegelt sich mittlerweile zwar in der wachsenden Anzahl entsprechender Publikationen wider. Gleichzeitig hat Frau Leucht sich mit ihrem Ansatz in ein kulturgeschichtliches Gebiet begeben, das noch vergleichsweise wenig erschlossen ist, weshalb ihr Projekt einigen Mut, Eigenständigkeit und wirkliches Interesse erforderte. Aus diesem Grund war es ein Vergnügen, Anaïs Leuchts Bachelorarbeit zu betreuen und ich bin ganz gespannt, wo ihr akademisches Interesse sie noch so hinführen wird.

 

Jedes Jahr werden an der Philologischen Fakultät mehr als 500 Abschlussarbeiten geschrieben. Einige davon stellen wir im Detail vor.